Выбрать главу

Nervös fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen.

»Sie sind also der Überzeugung, dass die Möglichkeit besteht, meinen Bruder dort anzutreffen?«, wandte sie sich an Lady Belcourt.

»Ich kann nichts versprechen. Möglicherweise ist er zugegen. Aber zumindest wird irgendjemand dort wissen, was mit ihm geschehen ist. Die Dunklen Schwestern wurden schon des Öfteren bei de Quinceys Soireen gesichtet; wenn man sie oder ihre Gefolgsleute verhaften und verhören würde, könnte man zweifellos ein paar Antworten aus ihnen herausquetschen.«

Tessa spürte, wie ihr übel wurde. »Also gut, ich mache es«, sagte sie. »Aber ich verlange, dass wir Nate, falls er anwesend sein sollte, dort herausholen. Ich will die Zusicherung, dass es nicht nur darum geht, de Quincey auf frischer Tat zu ertappen, sondern auch darum, meinen Bruder zu retten.«

»Selbstverständlich«, sagte Charlotte. »Aber ich bin mir noch immer nicht sicher, Tessa. Das Ganze wird sehr gefährlich werden ...«

»Hast du dich je in ein Schattenwesen verwandelt?«, erkundigte Will sich. »Weißt du, ob das überhaupt möglich ist?«

Tessa schüttelte den Kopf. »Ich habe es noch nicht probiert, aber ... ich könnte es ja einmal versuchen.«

Erneut wandte sie sich an Lady Belcourt. »Dürfte ich wohl um irgendeinen Gegenstand von Ihnen bitten? Einen Ring oder vielleicht ein Taschentuch?«

Camille griff mit den Händen in ihren Nacken und schob die dichten silberblonden Locken beiseite. Dann öffnete sie den Verschluss ihrer Halskette, ließ die funkelnden Rubine durch ihre schlanken Finger gleiten und hielt sie Tessa entgegen. »Hier, nehmen Sie.«

Mit einem Stirnrunzeln trat Jem einen Schritt vor, übernahm die Kette und reichte sie Tessa. Das Collier lag schwer in ihrer Hand und die rechteckigen Edelsteine fühlten sich kalt an — so kalt, als hätten sie im Schnee gelegen. Tessa schloss die Finger um den größten, fast vogeleigroßen Rubin in der Mitte der Kette und hatte den Eindruck, ein Stück Eis zu berühren. Dann holte sie tief Luft und schloss die Augen. Ein seltsames Gefühl überkam sie, anders als bei ihren bisherigen Verwandlungen: Die Dunkelheit hob sich ihr rasch entgegen und legte sich geschmeidig um sie und das Licht in der Ferne flirrte in einem kalten Silber. Die Kälte, die davon ausging, raubte ihr fast den Atem. Trotzdem zog Tessa das Licht zu sich heran, wickelte sich in seine eisige Umarmung und drang bis zu seinem Kern vor. Im nächsten Moment umhüllte das Licht sie wie mit schimmernden weißen Eiswänden.

Bis sie plötzlich einen stechenden Schmerz verspürte, in der Mitte ihrer Brust, und vor ihren Augen alles rot wurde. Um sie herum leuchtete alles in dunklem Scharlachrot — die Farbe des Blutes. Panik erfasste Tessa und sie kämpfte sich mühsam frei, riss die Augen auf...

Und dann war sie wieder im Sanktuarium, umringt von den anderen, die sie gebannt anstarrten, wenn auch nicht sprachlos wie bei ihrer ersten Verwandlung im Speisezimmer. Nur Camilles Lippen umspielte ein feines Lächeln.

Doch irgendetwas stimmte nicht: In ihrem Inneren verspürte Tessa eine große Leere — keine Trauer, sondern das abgrundtiefe Gefühl, dass irgendetwas fehlte. Sie rang nach Luft und im nächsten Augenblick fuhr ihr ein reißender Schmerz durch die Glieder. Kraftlos sank sie in einen der Sessel, presste die Hände auf die Brust und zitterte am ganzen Körper.

»Tessa?« Jem hockte sich neben ihren Sessel und nahm ihre Hand. Tessa konnte sich selbst im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand sehen oder — um genauer zu sein — Camilles Spiegelbild. Camilles schimmerndes silberblondes Haar, das sich in weichen Locken über ihre Schultern ergoss, und die weiße Haut, welche auf eine Weise über das nun zu enge Mieder wogte, die Tessa normalerweise hätte erröten lassen — wenn sie denn dazu in der Lage gewesen wäre. Doch Erröten erforderte Blut — Blut, das durch Adern floss. Und plötzlich erinnerte Tessa sich mit wachsendem Entsetzen, warum Vampire nicht atmeten, ihnen nie kalt oder warm wurde und sie auch kein pochendes Herz besaßen.

Dann war das also diese Leere, dieses seltsame Vakuum, das sie verspürte, überlegte sie. Das Herz in ihrer Brust schlug nicht mehr, war nur noch ein toter Klumpen. Als sie bestürzt nach Luft rang, schoss ein heftiger Schmerz durch ihre Lungen und Tessa erkannte, dass sie zwar noch atmen konnte, ihr neuer Körper dies aber nicht benötigte oder gar wollte.

»Oh Gott«, wisperte sie von Panik erfüllt und sah Jem an. »Ich ... mein Herz schlägt nicht mehr. Ich fühle mich, als wäre ich tot. Jem, ich ...«

Behutsam streichelte Jem ihre Hand und schaute sie aus seinen silbernen Augen besänftigend an. Der Ausdruck darin hatte sich auch nach ihrer Verwandlung nicht verändert — er betrachtete sie so, wie er sie stets betrachtet hatte, als wäre sie noch immer Tessa Gray.

»Keine Angst, du lebst«, erwiderte er so leise, dass nur sie ihn hören konnte. »Du trägst die Haut einer anderen Person, doch darunter bist du noch immer Tessa. Und du lebst. Weißt du, wieso ich das weiß?«

Tessa schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es, weil du eben ›Gott‹ gesagt hast. Und das kann kein Vampir.« Beruhigend drückte er ihre Hand. »Deine Seele ist noch immer unverändert.«

Tessa schloss die Augen und blieb einen Moment reglos sitzen, während sie sich auf den Druck seiner Finger konzentrierte, auf die Wärme seiner Hand auf ihrer eiskalten Haut. Nach einer Weile ließ das unkontrollierte Beben ihres Körpers nach; sie öffnete die Augen und schenkte Jem ein mattes, zittriges Lächeln.

»Tessa, ist alles ... ist alles in Ordnung?«, fragte Charlotte.

Tessa wandte langsam den Blick von Jems Gesicht ab und sah Charlotte an, die sie mit besorgter Miene musterte. Will, der neben Charlotte stand, betrachtete sie mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck.

»Sie werden natürlich noch üben und an Ihren Bewegungen und Ihrer Haltung arbeiten müssen, wenn Sie de Quincey davon überzeugen wollen, Sie seien ich«, bemerkte Lady Belcourt. »Ich würde mich beispielsweise niemals derart in einem Sessel lümmeln.«

Dann neigte sie den Kopf leicht zur Seite und fuhr fort: »Insgesamt aber eine recht beachtliche Vorstellung. Anscheinend hatten Sie einen exzellenten Lehrmeister.«

Sofort musste Tessa an die Dunklen Schwestern denken. Waren sie exzellente Lehrmeister gewesen? Hatten sie ihr wirklich einen Gefallen damit getan, die in ihr schlummernde Kraft zu wecken — so sehr sie diese auch hassen mochte? Oder wäre es vielleicht besser gewesen, sie hätte nie davon erfahren? Langsam ließ sie die fremde Gestalt von sich herabgleiten, streifte Camilles Haut ab. Im nächsten Moment hatte Tessa das Gefühl, als würde sie aus eisigem Wasser emporsteigen. Ihre Hand umklammerte Jems, während die Kälte sie vom Kopf bis zu den Zehenspitzen durchfuhr wie eine frostklirrende Kaskade. Und dann machte in ihrer Brust irgendetwas einen Satz, wie ein Vogel, der nach einem Schlag gegen eine Glasscheibe reglos am Boden gelegen, seine Kräfte gesammelt und sich schließlich wie ein Pfeil in die Lüfte erhoben hatte: Ihr Herz schlug wieder. Luft strömte durch ihre Lungen und Tessa gab Jems Hand frei und presste ihre Finger gegen die Brust, um den darunterliegenden sanften Rhythmus zu spüren. Als sie in den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand schaute, erkannte sie sich selbst darin: Tessa Gray — und keine überwältigend schöne Vampirin. Tessa verspürte eine Woge der Erleichterung.

»Mein Collier?«, sagte Lady Belcourt kühl und streckte ihre schlanke Hand aus.

Jem nahm die Rubinkette von Tessa in Empfang, um sie der Vampirin zu reichen. Als er sie anhob, sah Tessa, dass in die Silberfassung des größten Steins mehrere Worte graviert waren: »Amor verus numquam moritur.« Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu Will, der sie quer durch den Raum ebenfalls eindringlich ansah. Dann wandten beide hastig die Augen ab.

»Lady Belcourt«, richtete Will seine Aufmerksamkeit wieder auf die Vampirin, »da niemand von uns bisher das Vergnügen hatte, de Quinceys Haus betreten zu dürfen, halten Sie es für denkbar, uns vielleicht einen Grundriss des Anwesens zu besorgen oder eine kleine Skizze mit den örtlichen Gegebenheiten anzufertigen?«