»Ich werde Ihnen etwas viel Besseres zur Verfügung stellen«, verkündete Lady Belcourt, während sie die Kette wieder anlegte. »Magnus Bane.«
»Der Hexenmeister?« Charlotte hob skeptisch die Augenbrauen.
»In der Tat«, bestätigte Lady Belcourt. »Er kennt de Quinceys Villa mindestens so gut wie ich und wird regelmäßig zu seinen Abendgesellschaften geladen. Allerdings hat er — ebenso wie ich — die Soireen, bei denen diese Morde begangen wurden, bisher immer gemieden.«
»Sehr nobel von ihm«, murmelte Will.
»Er wird sich bei de Quincey mit Ihnen treffen und Sie im Haus herumführen. Keiner der Gäste dürfte überrascht sein, uns gemeinsam dort zu sehen. Denn Sie müssen wissen: Magnus Bane ist mein Liebhaber.«
Tessa blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen:
Diese Aussage zählte nicht zu den Dingen, die eine Dame in feiner Gesellschaft äußerte — oder überhaupt in irgendeiner Gesellschaft. Aber vielleicht galten für Vampire ja andere Maßstäbe? Allerdings wirkten auch alle anderen genauso sprachlos wie sie — bis auf Will, der wie üblich so aussah, als versuchte er, sich ein Lachen zu verkneifen.
»Wie ... wie nett«, stammelte Charlotte nach kurzem Zögern.
»Ja, der Meinung bin ich auch«, erwiderte Camille ungerührt und erhob sich. »Und nun wird es Zeit aufzubrechen. Wenn jemand die Güte besäße, mich hinauszubegleiten? Es ist schon spät und ich habe mich noch an niemandem gütlich getan.«
Charlotte warf Tessa einen besorgten Blick zu und wandte sich dann an die beiden jungen Schattenjäger:
»Will, Jem, wärt ihr so freundlich?«
Tessa sah zu, wie die jungen Männer Camille wie Soldaten aus dem Raum eskortierten. An der Tür hielt die Vampirin noch einmal inne und warf einen Blick über die Schulter, wobei ihre silberblonden Locken über die makellosen Wangen streiften. Sie war so atemberaubend schön, dass es Tessa einen Stich versetzte und sie ihre instinktive Abneigung vergaß.
»Wenn Sie diese Aufgabe übernehmen, kleine Gestaltwandlerin, und sie erfolgreich zu Ende bringen — ganz gleich, ob Sie Ihren Bruder finden oder nicht —, verspreche ich Ihnen, dass Sie es nicht bereuen werden«, richtete Camille sich lächelnd an Tessa. Das Mädchen runzelte die Stirn und setzte zu einer Frage an, doch Camille war bereits aus dem Raum gerauscht. Die Vampirin bewegte sich so schnell, dass es schien, als hätte sie sich zwischen zwei Atemzügen in Luft aufgelöst. »Was hat sie damit gemeint? Dass ich es nicht bereuen werde?« Tessa drehte sich zu Charlotte um.
Charlotte schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
Sie seufzte. »Ich würde nur zu gern annehmen, sie meinte damit, dass das Vollbringen eines guten Werks immer etwas Erfüllendes hat. Aber wir haben es hier mit Camille zu tun, daher kann ich mich nicht dafür verbürgen ...«
»Sind alle Vampire so?«, fragte Tessa. »So kalt und gleichgültig?«
»Die meisten von ihnen weilen schon sehr lange auf dieser Welt«, erwiderte Charlotte diplomatisch. »Sie sehen viele Dinge etwas anders als wir.«
Tessa presste die Finger gegen ihre schmerzenden Schläfen. »Das kann man wohl sagen.«
Von allen Eigenschaften, die Will an Vampiren verabscheute — ihre geräuschlose Fortbewegungsweise, das tiefe, unmenschliche Timbre ihrer Stimme —, irritierte ihn ihr Geruch am meisten. Oder genauer: das Fehlen eines Geruchs. Alle Menschen rochen nach irgendetwas — Schweiß, Seife, Parfüm —, aber Vampire verströmten keinerlei Duft. Sie waren geruchlos wie Wachsfiguren.
Wenige Schritte vor ihm hielt Jem eine der Türen auf, die vom Sanktuarium zur Eingangshalle des Instituts führten. All diese Räumlichkeiten waren säkularisiert worden, damit Vampire und ihresgleichen sie betreten konnten, doch darüber hinaus durfte Lady Belcourt sich nicht frei bewegen. Es handelte sich um mehr als einen Akt reiner Höflichkeit, sie hinauszugeleiten — die beiden Schattenjäger stellten damit auch sicher, dass Camille nicht versehentlich auf geweihten Boden geriet, was für alle Beteiligten mit gefährlichen Folgen verbunden gewesen wäre.
Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, schob Camille sich an Jem vorbei, gefolgt von Will, der nur kurz innehielt und seinem Freund zuraunte: »Sie riecht nach gar nichts ... rein gar nichts.«
Jem warf ihm einen beunruhigten Blick zu. »Du hast an ihr gerochen?«
Camille, die bereits an der nächsten Tür auf sie wartete, drehte den Kopf und bemerkte süffisant: »Ich kann alles hören, was ihr beide sagt. Und es stimmt:
Vampire haben keinen Geruch. Das macht uns zu besseren Beutegreifern.«
»In der Tat — das und ein hervorragendes Gehör«, erwiderte Jem und ließ die Tür hinter Will ins Schloss fallen. Sie befanden sich nun im kleinen rechteckigen Vorraum vor der Eingangshalle und Camille legte ihre schlanke Hand auf die Haustür, als könnte sie es kaum erwarten, das Institut zu verlassen. Doch aus ihren Augen sprach nicht die geringste Eile; stattdessen ließ sie ihren kühlen Blick über die beiden Jungen wandern.
»Seht euch nur an«, näselte sie, »ein Bild aus Schwarz und Silber. Du, mit deiner Blässe und den lichten Augen, könntest ein Vampir sein«, wandte sie sich an Jem, um ihren Blick danach auf Will zu heften: »Und du ... nun ja, ich glaube nicht, dass bei de Quincey irgendjemand auch nur den leisesten Zweifel daran hegen wird, dass du mein Domestik bist.«
Jem betrachtete Camille mit einem Ausdruck in den Augen, mit dem er nach Wills Ansicht auch durch Glas hätte schneiden können. »Warum tun Sie das, Lady Belcourt? Dieser Plan, de Quincey ans Messer zu liefern ... Warum?«, fragte er.
Camille lächelte. Sie war berückend schön, musste Will sich eingestehen. Andererseits konnten viele Vampire sich dieser Eigenschaft rühmen, einer Schönheit, die ihn immer an den Anblick gepresster Blumen erinnerte — reizend, aber tot. »Ich tue dies, weil das Wissen um seine Taten auf meinem Gewissen lastet«, erklärte sie.
Jem schüttelte den Kopf. »Vielleicht gehören Sie ja zu denjenigen, die sich selbst auf dem Altar der Prinzipien opfern würden, aber irgendwie glaube ich das nicht. Die meisten von uns haben in der Regel persönlichere Beweggründe — Liebe oder Hass.«
»Oder Rache«, ergänzte Will. »Schließlich haben Sie seit über einem Jahr von den Geschehnissen in de Quinceys Villa gewusst, sind aber erst jetzt damit zu uns gekommen.«
»Das hängt mit Miss Gray zusammen.«
»Das mag stimmen, ist aber doch nicht alles, oder?«, hakte Jem nach. »Tessa liefert Ihnen die Gelegenheit, doch das Motiv für Ihr Verhalten ... das Motiv ist ein anderes.« Er neigte den Kopf leicht zur Seite. »Warum hassen Sie de Quincey so sehr?«
»Ich wüsste nicht, was dich das anginge, kleiner Schattenjäger«, schnaubte Camille verächtlich. Unter ihren rubinroten Lippen erschienen die elfenbeinweißen Spitzen ihrer Fangzähne. Will wusste zwar, dass Vampire ihre Reißzähne jederzeit willkürlich präsentieren konnten, trotzdem hatte der Anblick etwas Beunruhigendes an sich. »Warum spielt es überhaupt eine Rolle, welche Motive ich verfolge?«
»Weil wir Ihnen sonst nicht vertrauen können«, entgegnete Will und nahm damit Jems Antwort vorweg. »Denn möglicherweise wollen Sie uns ja auch in eine Falle locken. Charlotte mag das zwar nicht glauben, aber das bedeutet nicht, dass wir diese Möglichkeit ausschließen dürfen.«
»In eine Falle locken?«, wiederholte Camille spöttisch. »Und dadurch den fürchterlichen Zorn des Rats auf mich ziehen? Nun, das dürfte wohl kaum wahrscheinlich sein!«
»Lady Belcourt, was auch immer Charlotte Ihnen versprochen haben mag — wenn Sie unsere Hilfe wollen, werden Sie die Frage beantworten müssen«, sagte Jem kühl.
»Also gut«, willigte sie widerstrebend ein. »Wie ich sehe, werdet ihr euch erst dann zufriedengeben, wenn ich euch eine Erklärung liefere. Du ...«, sie deutete mit dem Kopf auf Will, »... du hast recht. Für jemanden, der noch so jung ist, weißt du erstaunlich viel über Liebe und Rache. Wir sollten uns irgendwann einmal ausführlicher darüber unterhalten«, fügte sie hinzu und schenkte Will ein Lächeln, das jedoch nicht ihre Augen erreichte. »Ich hatte einst einen Geliebten ... ein Gestaltwandler, ein Lykanthrop. Allerdings ist es den Nachtkindern untersagt, die Kinder des Mondes zu lieben oder mit ihnen das Lager zu teilen. Wir waren sehr vorsichtig, doch de Quincey erfuhr davon. Er spürte uns auf und ermordete meinen Geliebten — auf eine ähnliche Weise, wie er irgendein armes Wesen bei seiner nächsten Soiree ermorden wird.« Camilles Augen schimmerten grün wie Smaragde, während sie die beiden Schattenjäger ansah. »Ich habe ihn geliebt und de Quincey hat ihn umgebracht. Und die anderen meines Schlages haben ihm dabei geholfen. Das werde ich ihnen nie verzeihen. Also tötet sie alle.«