Das Abkommen, dessen Unterzeichnung inzwischen zehn Jahre zurücklag, markierte einen historischen Moment für Nephilim und Schattenweltler gleichermaßen. Beide Gruppen würden nicht länger danach trachten, die jeweils andere zu vernichten; stattdessen würden sie sich gegen einen gemeinsamen Feind verbünden: die Dämonen. Fünfzig Männer und Frauen waren bei der Unterzeichnung in Idris zugegen gewesen: zehn Nachtkinder, zehn von Liliths Kindern, auch Hexenmeister genannt, zehn Angehörige des Lichten Volks, zehn Kinder des Mondes und zehn Nachkömmlinge von Raziels Blut ...
Mit einem Ruck schreckte Tessa hoch, als jemand leise an ihre Tür klopfte. Sie war eingedöst, den Kopf gegen die Kissen gelehnt und den Finger auf den aufgeschlagenen Seiten des Schattenjäger-Codex. Nachdem sie das Buch zugeklappt hatte, blieb ihr gerade noch Zeit, sich aufzusetzen und die Decke bis zum Hals zu ziehen, als die Tür sich auch schon vorsichtig öffnete.
Ein schwacher Lichtstrahl fiel ins Zimmer und dahinter kam Charlottes Gestalt in Sicht. Tessa verspürte einen seltsamen Stich, fast schon Enttäuschung — aber wen sonst hätte sie auch erwarten dürfen? Trotz der fortgeschrittenen Stunde war Charlotte so gekleidet, als beabsichtigte sie, noch auszugehen. Ihr Gesicht wirkte noch ernster als üblich und dunkle Schatten der Erschöpfung zeichneten sich unter ihren Augen ab. »Sind Sie noch wach?«, fragte sie leise. Tessa nickte und hob das Buch, in dem sie gelesen hatte. »Ich studiere den Codex.«
Charlotte erwiderte nichts darauf, durchquerte jedoch das Zimmer und ließ sich am Fußende von Tessas Bett nieder. Als sie ihr die Hand entgegenstreckte, schimmerte etwas auf ihrer Handfläche —
Tessas Klockwerk-Engel. »Sie haben das hier bei Henry zurückgelassen«, sagte sie.
Tessa legte das Buch beiseite, nahm den Anhänger entgegen, ließ die Kette über den Kopf gleiten und empfand ein Gefühl der Sicherheit, als sie das vertraute Gewicht an ihrer Kehle spürte. »Hat Henry irgendetwas darüber herausgefunden?«, erkundigte sie sich.
»Ich bin mir nicht sicher. Er meinte, das gesamte Innere sei durch jahrelangen Rost vollkommen korrodiert gewesen und es wäre ein Wunder, dass das Uhrwerk überhaupt noch funktioniert hat. Soweit ich weiß, hat er alle mechanischen Teile gereinigt, aber offenbar ohne allzu großen Erfolg. Er lässt fragen, ob der Engel jetzt vielleicht regelmäßiger tickt?«
»Möglicherweise«, erwiderte Tessa, aber im Grunde interessierte sie das wenig. Sie war einfach nur froh, den Engel — das Symbol der Erinnerung an ihre Mutter und ihr Leben in New York — zurückzuhaben.
»Tessa ...«, setzte Charlotte an und faltete die Hände im Schoß. »Da gibt es etwas, das ich Ihnen nicht erzählt habe.«
Tessas Herz schlug schneller. »Worum geht es?«
»Um Mortmain ...« Charlotte zögerte einen Moment. »Als ich Ihnen berichtete, dass Mortmain Ihren Bruder in den Pandemonium Club eingeführt hat, entsprach das zwar der Wahrheit, aber das war noch nicht alles: Ihr Bruder wusste bereits von der Verborgenen Welt, bevor Mortmain ihm davon berichtete. Anscheinend hatte er durch Ihren Vater davon erfahren.«
Sprachlos starrte Tessa die Schattenjägerin an.
»Wie alt waren Sie, als Ihre Eltern verstarben?«, fragte Charlotte.
»Sie sind bei einem Unfall ums Leben gekommen«, erklärte Tessa, leicht benommen. »Ich war damals drei und Nate war sechs.«
Charlotte runzelte die Stirn. »Sehr jung ... dafür, dass Ihr Vater Ihren Bruder ins Vertrauen gezogen hat, aber ... vermutlich nicht völlig unmöglich.«
»Nein«, widersprach Tessa. »Nein, Sie verstehen das nicht richtig: Ich hatte die normalste Kindheit, die man sich nur vorstellen kann. Und meine Tante Harriet war die pragmatischste Frau der Welt. Sie hätte davon gewusst, oder nicht? Sie war die jüngere Schwester meiner Mutter — meine Eltern hatten sie von London aus nach Amerika mitgenommen. Sie hätte doch etwas davon wissen müssen!«
»Viele Menschen haben Geheimnisse, Tessa, manchmal sogar vor denjenigen, die sie lieben.« Charlotte strich mit den Fingerspitzen über den Einband des Codex und zeichnete das eingeschnittene Emblem nach. »Und Sie müssen eingestehen, dass das Ganze durchaus einen Sinn ergibt.«
»Einen Sinn? Für mich ergibt das überhaupt keinen Sinn!«
»Tessa ...« Charlotte seufzte. »Wir wissen nicht, wieso Sie Ihre besondere Fähigkeit besitzen. Aber falls eines Ihrer Elternteile irgendwelche Verbindungen zur Welt der Magie unterhalten hat, wäre es da nicht naheliegend, dass Ihre Fähigkeit etwas mit dieser Verbindung zu tun haben könnte? Wenn Ihr Vater ein Mitglied des Pandemonium Clubs gewesen ist, könnte das nicht der Grund dafür sein, dass de Quincey überhaupt von Ihnen wusste?«
»Vermutlich schon«, räumte Tessa widerwillig ein.
»Aber ... aber als ich nach London kam, war ich so fest davon überzeugt, dass all das, was mir widerfuhr, nur ein Traum sein konnte, ein schrecklicher Albtraum. Ich war mir sicher, dass mein Leben in New York real gewesen war — und nicht das in London. Und ich dachte, wenn es mir nur gelänge, Nate zu finden, könnten wir nach Hause zurückkehren und unser altes Leben wieder aufnehmen.« Sie schaute Charlotte direkt in die Augen. »Aber jetzt komme ich nicht umhin, mich zu fragen, ob vielleicht mein Leben in Amerika nur ein Traum war und dies hier nun der Wahrheit entspricht. Falls meine Eltern wirklich vom Pandemonium Club wussten ... falls sie tatsächlich ein Teil der Verborgenen Welt gewesen sind, dann gibt es für mich keinen Ort, an den ich zurückkehren könnte, welcher nicht davon betroffen ist.«
Charlotte, deren Hände noch immer in ihrem Schoß lagen, schaute Tessa ruhig an. »Haben Sie sich je gefragt, warum Sophies Gesicht so verunstaltet ist?«
Die Frage traf Tessa vollkommen unvorbereitet und sie konnte nur stammelnd erwidern: »Ich ... der Gedanke ... Natürlich ist mir dieser Gedanke schon gekommen, aber ich wollte nicht fragen.«
»Und das war auch richtig so«, erklärte Charlotte mit kühler, fester Stimme. »Als ich Sophie das erste Mal sah, kauerte sie schmutzig und schluchzend in einem Torbogen, einen blutigen Lappen gegen die Wange gedrückt. Sie hatte mich gesehen, als ich an ihr vorbeiging, obwohl ich mich zu diesem Zeitpunkt in Zauberglanz gehüllt hatte. Und das war auch der Grund, weshalb sie überhaupt meine Aufmerksamkeit weckte. Sophie besitzt das zweite Gesicht, genau wie Thomas und Agatha. Ich habe ihr damals Geld angeboten, doch sie lehnte ab. Es gelang mir schließlich, sie zu überreden, mich in einen nahe gelegenen Teesalon zu begleiten. Und dort erzählte sie mir ihre Geschichte. Sie war ein Stubenmädchen gewesen, in einem vornehmen Haus in St. John’s Wood. Natürlich werden Stubenmädchen vorrangig wegen ihres hübschen Äußeren ausgewählt und Sophie war eine Schönheit — was sich für sie als Segen und Fluch zugleich entpuppte. Wie Sie sich sicher vorstellen können, zeigte der Sohn des Hauses schon bald Interesse an ihr und versuchte, sie zu verführen. Sophie wies ihn jedoch wiederholt zurück. In einem Wutanfall griff er zum Messer, schlitzte ihr die Wange auf und rief: Wenn er sie nicht haben könne, würde er dafür sorgen, dass auch kein anderer Mann sich jemals wieder für sie interessieren würde.«