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»Wie schrecklich«, wisperte Tessa.

»Sophie wandte sich an ihre Dienstherrin, die Mutter des jungen Mannes, aber er behauptete, sie habe versucht, ihn zu verführen, und er habe zum Messer greifen müssen, um sie abzuwehren und seine Ehre zu verteidigen. Und natürlich hat man Sophie aus dem Haus geworfen. Als ich sie auf der Straße fand, hatte sich ihre Wange bereits schlimm entzündet. Ich brachte sie hierher und ließ sie von den Brüdern der Stille behandeln, die zwar die Entzündung heilen konnten, nicht aber die Narbe.«

Unwillkürlich hatte Tessa ihre Hand an die eigene Wange gehoben. »Arme Sophie«, flüsterte sie voller Mitgefühl.

Charlotte neigte den Kopf leicht zur Seite und betrachtete Tessa aus leuchtend braunen Augen. Die Schattenjägerin besaß eine solch starke Ausstrahlung, überlegte Tessa, dass sie manchmal vergaß, wie klein Charlotte tatsächlich war, wie vogelzart und zierlich.

»Sophie hat eine besondere Gabe«, fuhr Charlotte nun fort. »Sie hat das zweite Gesicht. Sie sieht Dinge, die andere nicht sehen können. In ihrem alten Leben hat sie sich oft gefragt, ob sie vielleicht verrückt sei. Heute weiß sie jedoch, dass sie nicht verrückt, sondern etwas ganz Besonderes ist. Damals war sie nur ein einfaches Stubenmädchen, das sehr wahrscheinlich seine Stelle in dem Moment verloren hätte, in dem seine Schönheit verblasst wäre. Doch jetzt ist sie ein wertvolles Mitglied unseres Haushalts, ein besonders begabtes Mädchen, das viel beizutragen hat.« Charlotte beugte sich vor. »Sie schauen auf Ihr altes Leben zurück, Tessa, und im Vergleich zu diesem hier erscheint es Ihnen sicher. Doch wenn ich mich recht entsinne, waren Sie und Ihre Tante damals sehr arm. Wenn Sie nicht nach London gekommen wären, wohin hätten Sie sich nach dem Tod Ihrer Tante gewandt? Was hätten Sie getan? Hätten Sie sich vielleicht eines Tages schluchzend in einer Gasse wiedergefunden — so wie unsere Sophie?« Charlotte schüttelte den Kopf. »Sie besitzen eine Kraft von unschätzbarem Wert. Sie müssen niemanden um irgendetwas bitten. Sie sind von niemandem abhängig. Sie sind frei und diese Freiheit ist ein Geschenk.«

»Es fällt schwer, etwas als ein Geschenk zu betrachten, wenn man deswegen gefoltert und eingesperrt wurde.«

Erneut schüttelte Charlotte den Kopf. »Sophie hat mir einmal erklärt, sie sei froh, dass sie diese Narbe habe. Denn nun wisse sie: Wenn jemand sie lieben würde, würde derjenige ihr wahres Ich lieben und nicht nur ihr hübsches Gesicht. Dies hier ist Ihr wahres Ich, Tessa. Diese Kraft — das sind Sie. Wer auch immer Sie nun liebt, und Sie müssen sich natürlich auch selbst lieben, der wird Ihr wahres Ich lieben.«

Tessa nahm den Codex hoch und drückte ihn an ihre Brust. »Dann geben Sie also zu, dass ich recht habe: Dies hier ist das richtige Leben und die Jahre davor waren nur ein Traum.«

»Ganz recht.« Behutsam tätschelte Charlotte Tessas Schulter, die daraufhin fast erschrocken zusammenzuckte.

Es war so lange her, dass jemand sie auf eine solch mütterliche Weise berührt hatte, überlegte sie. Unwillkürlich musste sie an Tante Harriet denken und verspürte sofort einen Kloß im Hals.

»Und nun ist es Zeit aufzuwachen, Tessa«, fügte Charlotte hinzu.

9

Die Brigade

Mein Herz schwer wie ein Mühlstein, mein Antlitz hart wie Flint, Betrügen und betrogen und dann hinab ins Grab. Wer weiß? Wir sind nur Staub und Asche.
Alfred Lord Tennyson, »Maud«

»Versuch’s noch mal«, schlug Will vor. »Geh einfach bis zum Ende des Raums und wieder zurück. Wir werden dir dann schon sagen, ob du überzeugend wirkst.«

Tessa seufzte. Ihr dröhnte der Kopf und ihre Augen schmerzten: Es war wirklich anstrengend, glaubhaft eine Vampirin darzustellen.

Der Besuch von Lady Belcourt lag nun schon zwei Tage zurück und Tessa hatte seitdem fast jede freie Minute damit verbracht, sich in die Vampirdame zu verwandeln — allerdings ohne großen Erfolg. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich noch immer am Rand von Camilles Geist bewegte und einfach nicht bis zu ihrer wahren Persönlichkeit vordringen konnte. Und das machte es schwierig, sich wie diese zu geben und zu reden oder zu wissen, wie sie sich den anderen Vampiren gegenüber verhalten sollte, denen sie bei de Quinceys Soiree zweifellos begegnen würde und die Camille alle gut kannten.

Im Augenblick hielt sie sich in der Bibliothek auf, wo sie seit dem Mittagessen versucht hatte, Lady Belcourts seltsamen, fast schwebenden Gang und ihren schleppenden Tonfall zu imitieren. Dabei hatte ihr eine Brosche geholfen, die einer von Camilles Domestiken, eine verhutzelte, kleine Kreatur namens Archer, in einer Schatulle gebracht hatte. Lady Belcourt hatte auch eine Robe mitgeschickt, die Tessa bei de Quinceys Abendgesellschaft tragen sollte, doch sie war viel zu schwer und reich verziert für diese Tageszeit. Also hatte Tessa ihre Übungen in ihrem neuen, blau-weiß gestreiften Kleid durchgeführt — das allerdings ärgerlicherweise im Brustbereich zu eng und um die Taille herum zu lose war, sobald sie sich in Camille verwandelte.

Jem und Will hatten es sich auf einem der langen Tische im hinteren Bereich der Bibliothek bequem gemacht, angeblich um Tessa zu helfen und sie zu beraten. Doch es wirkte eher, als machten sie sich hauptsächlich über ihre verzweifelten Bemühungen lustig.

»Deine Füße zeigen beim Gehen zu weit nach außen«, fuhr Will fort, polierte eifrig einen Apfel an seiner Hemdbrust und schien Tessas wütendes Funkeln gar nicht zu bemerken. »Camille tritt behutsam und vorsichtig auf. Wie ein Faun im Wald. Und nicht watschelnd wie eine Ente.«

»Ich watschle nicht wie eine Ente!«

»Ich mag Enten«, lenkte Jem diplomatisch ein.

»Vor allem die im Hydepark.« Er warf Will einen Seitenblick zu. Beide Schattenjäger hockten mit baumelnden Beinen auf der hohen Tischkante. »Weißt du noch, wie du mich dazu überredet hast, eine Geflügelpastete an die Stockenten zu verfüttern, um herauszufinden, ob wir eine Rasse von Kannibalen-Enten züchten könnten?«

»Und sie haben sie tatsächlich verputzt!«, schwelgte Will genüsslich in Erinnerungen. »Diese blutrünstigen kleinen Biester. Vertraue niemals einer Ente.«

»Ich muss doch sehr bitten!«, fauchte Tessa. »Wenn ihr mir nicht helfen wollt, könnt ihr genauso gut auch gehen. Ich habe eurer Anwesenheit hier nicht zugestimmt, nur um mir dann euer Geschnatter über Enten anzuhören.«

»Deine Ungeduld ist wirklich höchst undamenhaft«, konstatierte Will und grinste hinter seinem Apfel hervor. »Oder bemerke ich hier vielleicht ein Zeichen dafür, dass sich Camilles Vampircharakter zunehmend manifestiert?«

Sein Ton klang scherzhaft, was Tessa sehr seltsam erschien: Nur wenige Tage zuvor hatte er sie wegen ihrer Frage nach seinen Eltern angefahren und kurz darauf mit flehendem Ausdruck in den Augen gebeten, nur ja kein Wort über Jems blutigen Husten zu verlieren. Und nun neckte er sie, als sei sie die kleine Schwester eines guten Freundes — ein Mädchen, das er flüchtig kannte, vielleicht auch mit einer gewissen Zuneigung in seiner Gegenwart duldete, aber ganz bestimmt nicht mit komplexeren Gefühlen in Verbindung brachte.

Tessa biss sich auf die Lippe und zuckte im nächsten Moment zusammen, weil sie einen unerwartet heftigen Schmerz verspürte: Camilles Vampirzähne — ihre Zähne — folgten einem Instinkt, den sie einfach nicht verstehen konnte. Sie schienen ohne jede Vorwarnung aus ihren Scheiden zu gleiten und Tessa nur durch plötzliche Stiche auf ihre Anwesenheit aufmerksam zu machen, wenn sie die zarte Haut ihrer Lippe durchstachen. Wie jedes Mal schmeckte sie auch nun Blut im Mund — ihr eigenes Blut, salzig und heiß — und presste einen Finger gegen die Wunde. Als sie die Hand herunternahm, schimmerte die Kuppe blutrot.