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»Kümmere dich einfach nicht darum«, riet Will, legte den Apfel beiseite und stand auf. »Du wirst feststellen, dass deine Haut sehr schnell verheilt.«

Vorsichtig tastete Tessa mit der Zunge nach ihrem linken Schneidezahn, doch er fühlte sich wieder flach an, wie ein ganz gewöhnlicher Zahn. »Ich verstehe wirklich nicht, was sie dazu veranlasst, einfach so hervorzugleiten!«

»Hunger«, erklärte Jem. »Hast du vielleicht an Blut gedacht?«

»Nein.«

»Oder daran, über mich herzufallen?«, fragte Will.

»Nein!«

»Das würde dir gewiss niemand verübeln — er ist heute äußerst ermüdend«, meinte Jem.

Tessa seufzte. »Camille ist so kompliziert. Es gelingt mir einfach nicht, sie zu verstehen — ganz zu schweigen davon, sie darzustellen.«

Jem betrachtete Tessa aufmerksam. »Bist du in der Lage, ihren Geist zu berühren? Auf dieselbe Art und Weise, wie du die Gedanken anderer Menschen lesen konntest, in die du dich verwandelt hast?«

»Nein, noch nicht. Ich versuche es schon die ganze Zeit, aber ich erhalte bloß Geistesblitze, flüchtige Bilder. Ihre Gedanken sind offenbar sehr gut abgeschirmt.«

»Nun, dann können wir nur hoffen, dass du diesen Schutzwall bis morgen durchbrochen hast«, bemerkte Will. »Denn sonst sehe ich schwarz für uns.«

»Will, sag doch nicht so was!«, rügte Jem seinen Freund.

»Du hast recht«, erwiderte Will. »Ich sollte meine eigenen Fähigkeiten nicht unterschätzen. Falls Tessa die Geschichte vermasselt, bin ich bestimmt in der Lage, uns durch gierende Vampirmassen hindurch einen Weg in die Freiheit zu erkämpfen.«

Wie üblich ignorierte Jem diese Bemerkung einfach. »Vielleicht kannst du ja nur die Gedanken der Toten lesen?«, wandte er sich an Tessa. »Vielleicht stammten ja die Gegenstände, die die Dunklen Schwestern dir gegeben haben, ausschließlich von den Menschen, die sie umgebracht hatten.«

»Nein, daran liegt es glücklicherweise nicht. Ich habe Jessamines Geist berührt, als ich mich in sie verwandelt habe. Das Ganze wäre sonst auch eine ziemlich makabre Fähigkeit.«

Jem musterte sie aus seinen silberhellen Augen. In seinem Blick lag etwas so Eindringliches, dass Tessa fast ein wenig mulmig wurde. »Wie klar kannst du die Gedanken der Toten tatsächlich sehen?«, fragte er.

»Wenn ich dir beispielsweise einen Gegenstand geben würde, der einst meinem Vater gehört hat, wüsstest du dann, was er im Moment seines Todes gedacht hat?«

Bei diesen Worten schaute Will den anderen Jungen überrascht und beunruhigt an. »James, ich glaube nicht ...«, setzte er an, verstummte aber, als sich die Tür öffnete und Charlotte die Bibliothek betrat. Doch sie war nicht allein: Ihr folgten mindestens ein Dutzend Leute — Fremde, die Tessa noch nie gesehen hatte.

»Die Brigade«, raunte Will und bedeutete Jem und Tessa, sich hinter einem der hohen Bücherregale zu verbergen. Von ihrem Versteck aus beobachteten sie gemeinsam, wie sich der Raum mit Schattenjägern füllte. Bei den meisten von ihnen handelte es sich um Männer, doch Tessa entdeckte auch zwei Frauen darunter.

Fasziniert betrachtete sie die beiden Schattenjägerinnen und musste dabei an Wills Worte über Boadicea denken: Auch Frauen konnten zum Schwert greifen. Die größere der beiden — sie war knapp einen Meter achtzig groß — trug ihr puderweißes Haar zu einem Kranz hochgesteckt. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters von über sechzig Jahren besaß sie eine hoheitsvolle Ausstrahlung. Die andere Frau war deutlich jünger und verströmte mit ihren dunklen Haaren und den katzenartigen Augen ein geheimnisvolles Flair.

Die restlichen Schattenjäger — eine Gruppe Männer unterschiedlicher Herkunft — wirkten dagegen fast wie zusammengewürfelt. Der Älteste unter ihnen war nicht nur von Kopf bis Fuß in Grau gekleidet, sondern hatte auch graue Haare und einen leicht gräulichen Teint. Sein hageres Gesicht mit der ausgeprägten, aber schmalen Nase und dem spitzen Kinn erinnerte Tessa an einen Adler und um die rot geränderten Augen gruben sich tiefe Krähenfüße in die faltige Haut, die unterhalb der Wangenknochen noch dunkler schimmerte. Neben ihm stand der jüngste der Gruppe, ein Schattenjäger, der nicht viel älter als Jem oder Will sein konnte und eine steife, wenn auch nicht unattraktive Ausstrahlung besaß, mit kantigen, allerdings ebenmäßigen Gesichtszügen, wirren braunen Haaren und einem wachsamen Blick.

Jem stieß ein unangenehm überraschtes Schnauben aus. »Gabriel Lightwood«, raunte er in Wills Richtung. »Was hat der hier zu suchen? Ich dachte, er wäre im Internat in Idris.«

Will hatte sich nicht von der Stelle bewegt und starrte den braunhaarigen Jungen mit hochgezogenen Augenbrauen an, wobei ein mattes Lächeln seine Lippen umspielte.

»Leg dich bitte nicht mit ihm an, Will«, fügte Jem hastig hinzu. »Jedenfalls nicht hier. Mehr erwarte ich gar nicht von dir.«

»Das ist ziemlich viel verlangt, findest du nicht?«, erwiderte Will, ohne den Blick von der Schattenjägergruppe abzuwenden. Er beugte sich leicht vor und beobachtete, wie Charlotte die Männer und Frauen zu einem großen Tisch im vorderen Bereich der Bibliothek dirigierte.

»Frederick Ashdown und George Penhallow, wenn ihr bitte hier Platz nehmen wollt«, forderte sie zwei Schattenjäger auf und wandte sich an die nächsten:

»Lilian Highsmith, bitte hier drüben neben der Landkarte und ...«

»Und wo ist Henry?«, fiel ihr der große, grauhaarige Mann mit vorgeblich höflichem Interesse ins Wort.

»Dein Gatte, Henry Branwell? Als einer der Leiter dieses Instituts sollte er wirklich zugegen sein.«

Charlotte zögerte nur einen Sekundenbruchteil, ehe sie eine freundliche Miene aufsetzte. »Er ist auf dem Weg hierher, Benedict Lightwood«, erklärte sie. Tessa erkannte dadurch zweierlei: zum einen, dass der grauhaarige Mann sehr wahrscheinlich Gabriel Lightwoods Vater war, und zum anderen, dass Charlotte log.

»Er täte auch gut daran! Eine Zusammenkunft der Brigade ohne den Leiter des Instituts — äußerst regelwidrig«, murrte Benedict Lightwood und wandte ruckartig den Kopf ab. Hastig zog Will sich hinter das Bücherregal zurück, doch es war bereits zu spät. Der große Mann kniff die Augen zusammen und dröhnte durch den Raum: »Und wer verbirgt sich dahinten? Komm heraus und zeig dein Gesicht!«

Will warf Jem einen Blick zu, der beredt die Achseln zuckte. »Hat wohl keinen Zweck, sich hier hinter dem Bücherregal zu verstecken, bis man uns hervorzerrt, oder?«

»Das meinst aber auch nur du!«, zischte Tessa. »Ich lege keinen Wert darauf, dass Charlotte wütend auf mich ist, falls wir uns hier nicht hätten aufhalten dürfen.«

»Nur keine Aufregung. Du hast von dieser Versammlung ja nichts ahnen können und Charlotte ist sich dessen durchaus bewusst«, erwiderte Will. »Sie weiß immer ganz genau, wem sie die Schuld geben muss«, fügte er grinsend hinzu. »Allerdings würde ich mich an deiner Stelle zügig zurückverwandeln, wenn du mich fragst. Wir brauchen unseren altehrwürdigen Honoratioren ja keinen allzu großen Schrecken einzujagen.«

»Oh!« Einen Moment lang hatte Tessa ganz vergessen, dass sie ja noch immer in Camilles Haut steckte. Hastig ließ sie deren Gestalt von sich abgleiten, und als sie zusammen mit Will und Jem hinter dem Bücherregal hervortrat, war sie wieder sie selbst.

»Will.« Charlotte seufzte, als sie ihn sah, und schüttelte beim Anblick von Tessa und Jem den Kopf. »Ich habe dir doch gesagt, dass die Brigade hier um vier Uhr zu einer Sitzung zusammenkommt.«

»Tatsächlich? Das muss ich wohl vergessen haben. Wie nachlässig von mir«, erklärte Will und warf dann dem jüngsten Schattenjäger einen spöttischen Blick zu. »Hallo, Gabriel.«

Der braunhaarige Junge reagierte mit einem verbissenen Starren: Seine leuchtend grünen Augen funkelten wütend und er presste die dünnen Lippen fest zusammen. Schließlich stieß er mühsam beherrscht hervor: »William ... Und James. Seid ihr zwei nicht ein bisschen zu jung, um euch während einer Versammlung hier heimlich herumzudrücken?«

»Und was ist mit dir?«, erwiderte Jem.