»Ich bin im Juni achtzehn geworden«, verkündete Gabriel selbstgefällig und lehnte sich mit seinem Stuhl so weit nach hinten, dass die vorderen Stuhlbeine vom Boden abhoben. »Damit habe ich das Recht, an allen Aktivitäten der Brigade teilzunehmen.«
»Dann hätten wir das ja geklärt«, warf die weißhaarige Frau mit der hoheitsvollen Ausstrahlung ironisch ein. »Und das ist sie also, Lottie? Das Hexenmädchen, von dem du uns erzählt hast?« Die Frage war direkt an Charlotte gerichtet, doch ihr Blick ruhte auf Tessa.
»Sie sieht ja nicht gerade wie eines von Liliths Kindern aus.«
»Das Gleiche galt für Magnus Bane, als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin«, gab Benedict Lightwood zu bedenken und beugte sich interessiert vor.
»Na, dann zeig uns mal, was du kannst!«, forderte er Tessa auf.
»Ich bin keine Hexe!«, protestierte Tessa aufgebracht.
»Nun ja, irgendetwas musst du ja sein, mein liebes Kind«, entgegnete die ältere Frau. »Wenn keine Hexe, was dann?«
»Das reicht.« Charlotte richtete sich auf. »Miss Gray hat ihre Glaubwürdigkeit bereits unter Beweis gestellt. Das muss fürs Erste genügen — zumindest bis die Brigade den Beschluss fasst, von ihrer Fähigkeit Gebrauch machen zu wollen.«
»An diesem Beschluss führt kein Weg vorbei«, sagte Will. »Ohne sie haben wir nicht die geringste Chance, den Plan erfolgreich umzusetzen ...«
Mit einem Ruck brachte Gabriel seinen Stuhl nach vorne, sodass die Beine krachend auf dem Steinboden aufschlugen. »Mrs Branwell«, fauchte er wütend, »ist William nun zu jung, um an einer Brigadenversammlung teilzunehmen, oder nicht?«
Charlottes Blick wanderte von Gabriels gerötetem Gesicht zu Wills ausdrucksloser Miene. Schließlich seufzte sie. »Ja, er ist zu jung. Will, Jem, wenn ihr bitte mit Tessa draußen im Flur warten würdet.«
Wills Züge verdüsterten sich, doch Jem schoss ihm einen warnenden Blick zu und er schwieg. Dagegen zog Gabriel Lightwood ein triumphierendes Gesicht.
»Ich werde euch hinausbegleiten«, verkündete er und sprang auf. Dann führte er die drei gewichtig aus der Bibliothek und folgte ihnen in den Korridor. »Du ...!«, zischte er in Wills Richtung, wobei er die Stimme senkte, damit die anderen Schattenjäger ihn durch die halb geöffnete Tür nicht hören konnten. »Du bist eine Schande für alle Schattenjäger.«
Will lehnte sich lässig gegen die Korridorwand und betrachtete Gabriel kühl. »Ich wusste nicht, dass da noch viel zu verschandeln war, nachdem dein Vater ...«
»Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du nicht von meiner Familie reden würdest«, fauchte Gabriel und zog die Bibliothekstür hinter sich ins Schloss.
»Wie bedauerlich, dass die Aussicht auf deine Verbundenheit mich nicht besonders zu locken vermag«, bemerkte Will spöttisch.
Gabriel starrte ihn an, mit wirren Haaren und wütend funkelnden Augen. In dem Moment erinnerte er Tessa an jemanden, aber sie hätte nicht sagen können, an wen genau. »Was?«, knurrte Gabriel.
»Er meint damit, dass ihn dein Dank nicht sonderlich interessiert«, erläuterte Jem bereitwillig. Gabriels Wangen liefen scharlachrot an. »Wenn du nicht minderjährig wärst, Herondale, würde das jetzt monomachia für uns bedeuten. Nur du und ich. Einen Zweikampf bis zum Tod. Ich würde dich in Fetzen reißen, dein Blut ...«
»Hör auf, Gabriel«, unterbrach Jem ihn, ehe Will etwas erwidern konnte. »Will zum Kampf anzustacheln, ist ungefähr so, als würde man einen Hund bestrafen, nachdem man ihn so lange gequält hat, bis er zugebissen hat. Du weißt doch, wie er ist.«
»Verbindlichsten Dank, James«, sagte Will, ohne den Blick von Gabriel abzuwenden. »Ich weiß dieses Leumundszeugnis wirklich zu schätzen.«
Jem zuckte die Achseln. »Aber es stimmt doch.«
Gabriel musterte Jem mit einem finsteren Blick.
»Halt dich da raus, Carstairs. Das betrifft dich nicht.«
Jem trat näher zu Will, der vollkommen ruhig dastand und Gabriels wütendes Funkeln mit einem derart eiskalten Blick konterte, dass sich Tessa die Nackenhaare aufrichteten. »Wenn es Will betrifft, betrifft es auch mich«, erwiderte Jem.
Gabriel schüttelte den Kopf. »Du bist ein anständiger Schattenjäger, James«, sagte er, »und ein Gentleman. Du hast deine ... deine Behinderung, aber daran gibt dir niemand die Schuld. Doch dieser ...« Er verzog verächtlich die Lippe und stieß mit einem Finger in Wills Richtung. »... dieser Abschaum hier wird dich nur mit in den Dreck ziehen. Such dir besser einen anderen parabatai. Niemand erwartet, dass Will Herondale älter als neunzehn wird, und niemand wird es bedauern, wenn er sein erbärmliches Leben aushaucht ...«
Das ging Tessa nun wirklich zu weit. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, platzte sie empört hervor:
»Wie können Sie nur so etwas sagen!«
Gabriel, der mitten in seiner Tirade unterbrochen worden war, starrte sie verblüfft an, als hätte einer der Wandteppiche plötzlich zu reden begonnen. »Wie bitte?«
»Sie haben mich genau verstanden. Einem anderen Menschen an den Kopf zu werfen, dass man es nicht bedauern würde, wenn er stirbt! Das ist unverzeihlich!« Tessa packte Will am Ärmel. »Komm, Will. Dieses ... dieses Jüngelchen ist es ganz offensichtlich nicht wert, auch nur eine Minute deiner Zeit an ihn zu verschwenden.«
Will wirkte höchst amüsiert. »Wie wahr, wie wahr.«
»Du ... du ...«, setzte Gabriel stammelnd an und musterte Tessa mit einem beunruhigten Blick. »Du hast nicht die geringste Ahnung, was er getan hat ...«
»Und es ist mir auch vollkommen egal. Ihr seid alle Nephilim, oder etwa nicht? Das bedeutet, dass ihr auf derselben Seite kämpfen solltet.« Tessa musterte Gabriel stirnrunzelnd. »Ich denke, Sie schulden Will eine Entschuldigung.«
»Eher würde ich mir die Gedärme herausreißen und vor meinen Augen zusammenknoten lassen, als diesen Wurm um Verzeihung zu bitten«, knurrte Gabriel.
»Du meine Güte!«, sagte Jem sanft. »Das kann nicht dein Ernst sein. Natürlich nicht der Teil mit Will als Wurm, sondern die Aussage über deine Gedärme. Das klingt wahrlich grauenvoll.«
»Oh doch, das ist mein voller Ernst«, erwiderte Gabriel, der sich für das Thema zunehmend erwärmte.
»Eher ließe ich mich in ein Fass mit Malphas’ ätzendem Gift versenken, bis von mir nur noch die Knochen übrig wären.«
»Tatsächlich?«, fragte Will. »Zufälligerweise kenne ich da einen Burschen, der uns ein Fass ...«
Im selben Moment wurde die Tür der Bibliothek aufgerissen und Mr Lightwood erschien auf der Schwelle. »Gabriel«, wandte er sich in eisigem Ton an seinen Sohn. »Beabsichtigst du nun, an der Versammlung teilzunehmen — deiner ersten Versammlung der Brigade, falls ich dich daran erinnern darf? Oder möchtest du lieber hier draußen im Flur bleiben und mit den anderen Kindern spielen?«
Keiner der Anwesenden wirkte über diesen Kommentar besonders begeistert — vor allem Gabriel nicht, der nun hörbar schluckte, nickte und Will einen letzten giftigen Blick zuwarf, ehe er seinem Vater folgte und die Bibliothekstür laut hinter sich zuknallte.
»Nun, das war ungefähr so übel, wie ich es erwartet hatte«, bemerkte Jem, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. »Ist dies eure erste Begegnung seit der letzten Weihnachtsfeier?«, wandte er sich an Will.
»Ja«, bestätigte Will. »Meinst du, ich hätte ihm erzählen sollen, wie sehr er mir gefehlt hat?«
»Nein«, seufzte Jem.
»Ist er immer so?«, fragte Tessa. »So grässlich?«
»Da solltest du erst mal seinen älteren Bruder kennenlernen«, erklärte Jem. »Im Vergleich zu ihm ist Gabriel das reinste Lamm. Und er hasst Will noch mehr als Gabriel — sofern das überhaupt möglich ist.«
Will quittierte diese Worte mit einem breiten Grinsen, dann machte er auf dem Absatz kehrt und stiefelte fröhlich pfeifend durch den Flur. Jem zögerte einen Moment und setzte sich dann ebenfalls in Bewegung, wobei er Tessa bedeutete, ihnen zu folgen.
»Warum hasst Gabriel Lightwood dich so sehr, Will?«, fragte Tessa, als sie zu den Jungen aufgeschlossen hatte. »Was hast du ihm denn angetan?«