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»Ihm eigentlich nichts«, erklärte Will, während er zügig weitermarschierte. »Es geht eher darum, was ich seiner Schwester angetan habe.«

Tessa warf Jem einen fragenden Blick zu, der jedoch nur achselzuckend erwiderte: »Wo unser Will ist, da ist auch ein halbes Dutzend zorniger junger Damen, die behaupten, er habe ihre Tugend auf dem Gewissen.«

»Und, stimmt das?«, fragte Tessa, während sie gleichzeitig versuchte, mit den Jungen Schritt zu halten. Schließlich konnte sie in ihren schweren Röcken, die sich bei jeder Bewegung um die Fußknöchel bauschten, nicht so schnell ausschreiten wie bisher. Einen Tag zuvor war die Lieferung der neuen Gewänder aus der Bond Street eingetroffen und sie musste sich erst noch daran gewöhnen, derart teure Kleidung zu tragen. Wehmütig erinnerte Tessa sich an die leichten Kleider, die sie als kleines Mädchen besessen hatte. Darin hatte sie zu ihrem Bruder laufen, ihn gegen das Schienbein treten und davonflitzen können, ohne dass er in der Lage gewesen wäre, sie einzuholen. Einen Moment lang fragte sie sich, was wohl geschehen würde, wenn sie das auch mit Will versuchte. Allerdings hatte sie große Zweifel, ob dies zu ihrem Vorteil enden würde — so verlockend der Gedanke auch sein mochte. »Hast du sie kompromittiert, meine ich?«, fügte sie atemlos hinzu.

»Du stellst viele Fragen«, sagte Will, bog scharf um eine Ecke und stieg eine schmale Stiege hinauf. »Findest du nicht?«

»Ja, schon ...«, räumte Tessa ein, während die Absätze ihrer Schuhe laut auf den Steinstufen klapperten, als sie Will die Treppe hinauf folgte. »Aber was bedeutet parabatai? Und was hast du gemeint, als du von Gabriels Vater und seiner Ehre gesprochen hast?«

»Parabatai heißt auf Griechisch eigentlich ›Ein Kämpfer gepaart mit einem Wagenlenker‹«, erläuterte Jem. »Aber wenn Nephilim diesen Begriffverwenden, meinen wir damit zwei Krieger, die gemeinsam kämpfen — zwei Männer, die schwören, einander bedingungslos zu schützen und sich gegenseitig Rückendeckung zu geben.«

»Männer?«, hakte Tessa nach. »Diese Gespanne können also nicht aus Frauen bestehen oder einem Mann und einer Frau?«

»Hattest du nicht gesagt, Frauen verspürten keine Blutrunst?«, entgegnete Will, ohne den Kopf zu wenden. »Und was Gabriels Vater betrifft, lass es mich einmal so formulieren: Er steht im Ruf, für Dämonen und Schattenwesen eine etwas größere Vorliebe zu hegen, als gesund ist. Es würde mich wundern, wenn die nächtlichen Besuche des alten Lightwood in einem gewissen Etablissement in Shadwell ihm nicht eine hässliche kleine Ansteckung mit Dämonenpocken beschert hätten.«

»Dämonenpocken?«, wiederholte Tessa mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination.

»Das hat er nur erfunden«, versicherte Jem ihr hastig. »Also wirklich, Will. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass es so etwas wie Dämonenpocken gar nicht gibt?«

Inzwischen war Will vor einer schmalen Tür auf dem ersten Treppenabsatz stehen geblieben. »Ich glaube, hier ist es«, murmelte er und rüttelte am Türknauf. Als nichts geschah, zückte er seine Stele und zeichnete eine schwarze Rune auf das Holz. Sofort schwang die Tür nach innen, wobei eine kleine Staubwolke aufstieg. »Das müsste der Abstellraum sein.«

Jem folgte ihm in die Kammer und auch Tessa ließ sich nicht zweimal bitten. Sie befanden sich in einem kleinen, quadratischen Raum, nur erhellt vom fahlen Licht, das durch ein schmales Bogenfenster hoch oben in der gegenüberliegenden Mauer hereinfiel. Überall stapelten sich Kisten und Truhen, und abgesehen von einem Haufen alter Waffen in einer der Ecken — schwere Ungetüme aus rostigem Eisen mit breiten Klingen und langen Ketten, an denen klobige, mit eisernen Stacheln bewehrte Metallkugeln befestigt waren — wirkte der Raum wie jede herkömmliche Abstellkammer.

Will schob eine der Truhen zur Seite, um eine rechteckige Fläche auf dem Holzboden freizuräumen. Dabei wirbelte weiterer Staub auf und Jem hustete und bedachte seinen Freund mit einem vorwurfsvollen Blick. »Wenn deine Motive nicht wie immer bestenfalls als nebulös zu bezeichnen wären, könnte man meinen, dass du uns hierher gebracht hast, um uns zu ermorden«, krächzte er.

»Nicht ermorden«, murmelte Will. »Warte einen Moment — ich muss noch eine weitere Truhe verrücken.«

Während Will das schwere Möbelstück gegen die Wand schob, warf Tessa Jem einen Seitenblick zu.

»Was hat Gabriel mit ›deine Behinderung‹ gemeint«, fragte sie mit gesenkter Stimme, damit Will sie nicht hören konnte.

Jems silberne Augen weiteten sich einen kurzen Moment, ehe er erklärte: »Meine schlechte Gesundheit. Das ist schon alles.«

Doch Tessa wusste sofort, dass er log. Er hatte denselben Ausdruck in den Augen wie ihr Bruder, wenn er ihr eine Lüge auftischen wollte — etwas zu unschuldig, zu aufrichtig, um wahr zu sein.

Aber noch bevor sie etwas erwidern konnte, richtete Will sich auf und verkündete: »So, das hätten wir. Kommt her und setzt euch.« Dann ließ er sich auf dem staubigen Boden nieder und zückte erneut seine Stele. Während Jem seinem Beispiel folgte, zögerte Tessa noch und veranlasste Will zu einem schiefen Lächeln.

»Willst du dich nicht zu uns gesellen, Tessa? Oder hast du Sorge, das hübsche Kleidchen zu ruinieren, das Jessamine dir gekauft hat?«

Genau genommen entsprach das der Wahrheit:

Tessa verspürte nicht den geringsten Wunsch, das eleganteste Ensemble, das sie je besessen hatte, zu beschädigen. Aber Wills spöttischer Ton war ihr unerträglicher als der Gedanke an das ramponierte Kleid. Also biss sie die Zähne zusammen, schürzte die Röcke und ließ sich gegenüber den beiden Schattenjägern so auf den Holzdielen nieder, dass sie eine Art Dreieck bildeten.

Will drückte die Stele wie einen Stift auf den schmutzigen Boden und begann zu zeichnen. Breite schwarze Linien flossen aus der Spitze, die Tessa gebannt beobachtete. Die Bewegungen der Stele hatten etwas Faszinierendes und Wunderschönes an sich — ihre Linien wirkten nicht wie Tusche, die sich aus einem Füllfederhalter ergoss, sondern eher so, als wären sie schon immer dort gewesen und würden von Will nur freigelegt.

Nach ein paar Sekunden stieß Jem plötzlich ein ungläubiges Schnauben aus; offenbar hatte er gerade erkannt, welches Runenmal sein Freund da anfertigte.

»Was um Himmels willen ...?«, setzte er an, doch Will hielt abwehrend die andere Hand hoch und schüttelte den Kopf.

»Unterbrich mich nicht«, sagte er. »Wenn mir hierbei ein Fehler unterläuft, könnte es passieren, dass wir durch den Boden sacken.« Jem verdrehte die Augen, was aber keine Rolle zu spielen schien: Will hatte sein Werk bereits vollendet und steckte die Stele wieder ein. Tessa schaute auf die von ihm angefertigte Rune — und stieß dann einen kurzen, überraschten Schrei aus, als die verzogenen Holzdielen zwischen ihnen zu schimmern begannen und schließlich gänzlich durchsichtig wurden. Sie vergaß ihr neues Kleid, beugte sich rasch vor und starrte durch den Boden wie durch eine Glasscheibe.

Nach einem Moment begriff sie, dass sie von oben in die Bibliothek hineinschaute: Sie konnte den großen Tisch sehen und die Schattenjäger, die daran Platz genommen hatten, Charlotte zwischen Benedict Lightwood und der eleganten, weißhaarigen Frau. Selbst von oben war Charlotte leicht zu erkennen — an ihrem ordentlichen Haarknoten und den schnellen Handbewegungen, die jedes ihrer Worte zu begleiten schienen.

»Warum hier?«, wandte Jem sich leise an Will.

»Warum nicht in der Waffenkammer? Die liegt doch direkt neben der Bibliothek.«

»Schall bewegt sich in alle Richtungen, also können wir genauso gut von hier oben zuhören«, erklärte Will. »Außerdem: Wer vermag schon zu sagen, ob nicht irgendeiner der Anwesenden während der Versammlung auf die Idee kommt, einen Blick in die Waffenkammer zu werfen, um unsere Bestände zu inspizieren? Das ist schließlich schon öfter passiert.«

Tessa, die noch immer fasziniert durch die Dielen starrte, stellte erstaunt fest, dass sie tatsächlich ein leises Stimmengewirr vernehmen konnte. »Sind wir ebenfalls zu hören?«, fragte sie beunruhigt. Will schüttelte den Kopf. »Diese Rune funktioniert nur in eine Richtung.« Dann runzelte er die Stirn und beugte sich vor. »Was sagen sie?«