Alle drei verstummten und in der darauffolgenden Stille drang Benedict Lightwoods Stimme deutlich bis zu ihnen in die Abstellkammer hinauf: »Ich weiß nicht recht, Charlotte. Dieser ganze Plan erscheint mir sehr riskant.«
»Aber wir können de Quincey nicht einfach so weitermachen lassen«, hielt Charlotte dagegen. »Er ist der Anführer der Londoner Vampirclans. Sämtliche Nachtkinder schauen zu ihm auf. Wenn wir ihm unbekümmert gestatten, gegen das Gesetz zu verstoßen, welche Botschaft sendet das dann an die Schattenwelt? Dass die Nephilim nachlässig geworden sind und es mit dem Schutz nicht mehr so genau nehmen?«
»Damit ich das richtig verstehe: Du bist also bereit, Lady Belcourt einfach so zu glauben, dass de Quincey — ein langjähriger Verbündeter des Rats — in seinem eigenen Haus Irdische ermordet?«, fragte Lightwood.
»Ich weiß nicht, warum dich das überrascht, Benedict«, konterte Charlotte mit einem scharfen Unterton in der Stimme. »Möchtest du vielleicht vorschlagen, dass wir Lady Belcourts Bericht schlichtweg ignorieren — ungeachtet der Tatsache, dass sie uns in der Vergangenheit immer zuverlässige Informationen geliefert hat? Ungeachtet der Tatsache, dass das Blut aller von de Quincey ermordeten Menschen von nun an auch an unseren Händen kleben wird, falls sie wieder die Wahrheit sagt?«
»Und ungeachtet der Tatsache, dass wir gesetzlich verpflichtet sind, jedem Bericht über einen Verstoß gegen den Bündnisvertrag unverzüglich nachzugehen«, fügte ein schlanker, dunkelhaariger Mann am anderen Ende des Tischs hinzu. »Das weißt du so gut wie jeder andere hier im Raum, Benedict. Du willst es dir einfach nur nicht eingestehen.«
Während Lightwoods Gesicht sich verfinsterte, atmete Charlotte erleichtert auf. »Vielen Dank, George. Ich weiß deine Unterstützung zu schätzen«, sagte sie entschlossen.
Die hochgewachsene Frau, die Charlotte kurz zuvor mit »Lottie« angesprochen hatte, brach in ein tiefes, grollendes Gelächter aus. »Nun sei doch nicht so theatralisch, Charlotte«, spottete sie. »Du musst zugeben, dass die ganze Geschichte ziemlich bizarr klingt: Ein Gestaltwandler-Mädchen, das eine Hexe sein mag oder auch nicht, Freudenhäuser voller verstümmelter Leichen und ein Informant, der beteuert, er hätte de Quincey irgendwelche mechanischen Gerätschaften verkauft — ein Umstand, den du für ein überaus wichtiges Beweismittel zu halten scheinst, obwohl du dich weigerst, uns den Namen dieses Informanten zu nennen.«
»Ich habe ihm mein Wort gegeben, ihn nicht in die Sache hineinzuziehen«, protestierte Charlotte. »Er fürchtet de Quincey.«
»Handelt es sich um einen Schattenjäger?«, fragte Lightwood fordernd. »Denn falls das nicht so sein sollte, ist er nicht vertrauenswürdig.«
»Also wirklich, Benedict, deine Ansichten sind wahrlich völlig veraltet«, bemerkte die Frau mit den katzenartigen Augen. »Wenn man dich so reden hört, könnte man glauben, das Abkommen wäre nie unterzeichnet worden.«
»Lilian hat recht: Du verhältst dich einfach lächerlich, Benedict«, pflichtete George Penhallow ihr bei.
»Die Suche nach einem hundertprozentig vertrauenswürdigen Informanten ist wie die Suche nach einer keuschen Mätresse. Wenn sie alle vollkommen tugendhaft wären, würden sie uns wohl kaum etwas nutzen. Ein Informant liefert einfach nur Informationen. Es ist unsere Aufgabe, diese Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen — und das ist genau das, was Charlotte vorgeschlagen hat.«
Wie seltsam, dachte Tessa, dass sich diese Gruppe vornehmer Erwachsener nur mit dem Vornamen anredete und auf die Erwähnung irgendwelcher Titel und Ehrenbezeichnungen völlig verzichtete. Aber dies schien bei den Schattenjägern nun mal so üblich zu sein.
»Ich würde es einfach nicht gern sehen, wenn die Macht des Rats in diesem Fall missbraucht würde«, erwiderte Lightwood in samtigem Ton. »Wenn beispielsweise eine Vampirin einen Groll gegen den Anführer ihres Clans hegen würde und ihn seiner Machtposition enthoben sehen wollte — welch besseres Mittel gäbe es dann, als den Rat dazu zu bringen, die schmutzige Arbeit für sie zu erledigen?«
»Verdammt«, murmelte Will und tauschte einen raschen Blick mit Jem. »Woher weiß er davon?«
Jem schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: Ich habe nicht den leisesten Schimmer.
»Weiß wovon?«, wisperte Tessa, doch ihre Frage wurde von Charlotte und der weißhaarigen Frau übertönt, die beide gleichzeitig redeten.
»So etwas würde Camille niemals tun!«, protestierte Charlotte. »Zum einen ist sie keine Närrin. Sie weiß genau, welche Strafe sie erwartet, falls sie uns belügt!«
»Benedict hat nicht ganz unrecht«, warf die ältere Frau ein. »Es wäre wirklich besser, wenn ein Schattenjäger gesehen hätte, wie de Quincey gegen das Gesetz verstößt ...«
»Aber genau darum geht es hier doch«, erwiderte Charlotte. In ihrer Stimme schwang ein nervöser Unterton mit — das angestrengte Bemühen, ihre Kompetenz unter Beweis zu stellen. Plötzlich empfand Tessa so etwas wie Mitleid mit der jungen Institutsleiterin.
»Diese Operation soll dazu dienen, de Quincey beim Brechen des Gesetzes zu beobachten, Tante Callida.«
Tessa stieß einen unterdrückten, überraschten Laut aus, der Jem veranlasste aufzuschauen. »Ja, sie ist Charlottes Tante«, bestätigte er. »Ihr Bruder — Charlottes Vater — hat früher das Institut geleitet. Callida erzählt gern allen anderen, was sie zu tun haben. Wohingegen sie selbst natürlich immer nur das tut, was sie will.«
»Das kann man wohl laut sagen«, pflichtete Will ihm bei. »Wusstest du, dass sie mir einmal Avancen gemacht hat?«
Jem sah nicht so aus, als würde er davon auch nur ein Wort glauben. »Hat sie nicht.«
»Hat sie wohl«, beharrte Will. »Das Ganze war ziemlich skandalös. Und möglicherweise hätte ich mich ihren Wünschen ja gebeugt, wenn sie mir nicht solch eine Angst eingejagt hätte.«
Bei diesen Worten schüttelte Jem nur stumm den Kopf. Dann widmete er seine Aufmerksamkeit wieder den Geschehnissen in der Bibliothek.
»Da wäre außerdem noch de Quinceys Zeichen, das wir im Inneren des Klockwerk-Mädchens vorgefunden haben«, fuhr Charlotte in diesem Moment fort.
»Bei dieser ganzen Geschichte deuten einfach zu viele Indizien in seine Richtung, um keine Ermittlungen einzuleiten.«
»Da kann ich dir nur zustimmen«, sagte Lilian. »Ich zum Beispiel mache mir Sorgen wegen dieser Klockwerk-Kreaturen. Das Basteln von Mädchen aus mechanischen Teilen ist eine Sache, aber was ist, wenn de Quincey eine ganze Klockwerk-Armee auf die Beine stellt?«
»Das sind doch reine Spekulationen, Lilian«, bemerkte Frederick Ashdown.
Lilian verwarf seinen Kommentar mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Ein Automat ist weder seraphischen noch dämonischen Ursprungs und damit weder ein Kind Gottes noch des Teufels. Da stellt sich für mich die Frage: Würden wir ihm mit unseren Waffen überhaupt beikommen?«
»Ich glaube ja, dass du ein Problem siehst, wo gar keines ist«, höhnte Benedict Lightwood. »Automaten gibt es inzwischen seit mehreren Jahren: Die Irdischen sind völlig fasziniert von diesen Kreaturen. Und bisher hat kein einziger Automat auch nur die geringste Gefahr für uns dargestellt.«
»Aber bisher wurde auch noch kein einziger mithilfe von Magie angefertigt«, erwiderte Charlotte.
»Soweit du weißt«, schnaubte Lightwood ungeduldig.
Charlotte setzte sich kerzengerade auf. Nur Tessa und die beiden Jungen konnten von oben sehen, dass ihre Hände fest verschränkt in ihrem Schoß ruhten.
»Deine Bedenken, Benedict, scheinen sich darauf zu beziehen, dass wir de Quincey zu Unrecht für ein Verbrechen bestrafen würden, das er nicht begangen hat, und auf diese Weise die Beziehungen zwischen den Nachtkindern und den Nephilim gefährden. Habe ich recht?«