Zu Tessas Überraschung hoben alle die Hand; es gab nicht eine Gegenstimme. Die Diskussion war so kontrovers geführt worden, dass sie mit mindestens einer Ablehnung gerechnet hatte.
Als Jem ihren verwunderten Blick auffing, lächelte er. »So sind sie immer«, raunte er ihr leise zu. »Sie tragen gerne Machtspiele aus, aber keiner von ihnen würde in solch einer wichtigen Angelegenheit dagegen stimmen. Das käme einem Zeichen von Feigheit gleich.«
»Nun gut«, sagte Benedict gerade. »Dann treffen wir uns also morgen Abend. Sind alle ausreichend ausgestattet? Gibt es ...«
In dem Moment flog die Bibliothekstür auf und Henry stürmte herein — mit noch größeren Augen und noch zerzausteren Haaren, falls dies überhaupt möglich war. »Da bin ich!«, verkündete er atemlos.
»Doch nicht zu spät, oder?«
Resigniert stützte Charlotte den Kopf in die Hände.
»Henry, wie schön, dich zu sehen«, bemerkte Benedict Lightwood ironisch. »Deine Frau hat uns bereits über deine neueste Erfindung in Kenntnis gesetzt. Der Phosphorisator, stimmt’s?«
»Genau!« Stolz hielt Henry das Gerät in die Höhe.
»Das hier ist er. Und ich kann euch versichern, dass er diesmal auch so funktioniert wie versprochen. Wollt ihr mal sehen?«
»Äh, es besteht wirklich kein Grund für eine Demonstration«, setzte Benedict hastig an, doch es war zu spät. Henry hatte bereits den Knopf gedrückt. Im nächsten Moment erfolgte ein greller Lichtblitz — und dann erloschen schlagartig sämtliche Lichter in der Bibliothek, sodass Tessa und die anderen auf ein dunkles schwarzes Rechteck im Boden starrten. Von unten drangen bestürzte Laute hoch. Dann schrie jemand kurz auf und irgendetwas stürzte krachend und splitternd zu Boden. Und über allem schwebte die Stimme von Benedict Lightwood, der einen Schwall von Flüchen ausstieß.
Will schaute auf und grinste. »Recht unerquicklich für Henry natürlich«, bemerkte er trocken, »aber andererseits auch irgendwie sehr zufriedenstellend, findet ihr nicht?«
Und Tessa musste ihm recht geben — in jeder Hinsicht.
10
Prinzen und Könige bleich
Während die Kutsche über das holprige Kopfsteinpflaster des Strand rollte, hob Will eine schwarz behandschuhte Hand und zog einen der Samtvorhänge vor dem Fenster zurück, sodass ein dünner Strahl gelblichen Gaslichts ins dunkle Innere des Wagens fiel. »Sieht ganz danach aus, als würden wir heute Abend noch Regen bekommen«, bemerkte er.
Tessa folgte seinem Blick. Der Londoner Himmel vor dem Fenster war bewölkt und stahlgrau — wie üblich, dachte sie. Männer mit Hüten und langen dunklen Mänteln eilten über die Gehwege auf beiden Seiten der Straße und stemmten sich gegen den böigen Wind, der eine Mischung aus Kohlenstaub, Pferdemist und anderen Gerüchen mit sich führte, welche ihr ein Brennen in den Augen verursachten. Ein weiteres Mal hatte Tessa den Eindruck, sie könnte den typischen Dunst der Themse wahrnehmen.
»Ist das da eine Kirche?«, wunderte sie sich laut, als sie nach vorne schaute. »Eine Kirche, die mitten auf der Straße steht?«
»Das ist St. Mary le Strand«, erklärte Will. »Mit diesem Gotteshaus ist eine lange Geschichte verbunden — die ich dir aber ein anderes Mal erzählen werde. Hast du eigentlich irgendetwas von dem mitbekommen, was ich gesagt habe?«
»Ja, natürlich«, versicherte Tessa, »jedenfalls bis zu dem Moment, als du von Regen gesprochen hast. Wen interessiert es schon, ob es heute Abend regnen wird? Wir sind auf dem Weg zu irgendeiner Art ... VampirSoiree, aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich mich verhalten soll. Und bisher bist du mir auch keine allzu große Hilfe gewesen.«
Wills Mundwinkel zuckten amüsiert. »Sei einfach nur vorsichtig. Wenn wir bei de Quincey eintreffen, kannst du dich auch nicht ratsuchend an mich wenden. Denn vergiss nicht: Ich bin nur dein Domestik. Und du duldest mich lediglich in deiner Nähe, weil du mein Blut willst — Blut, wann immer dir danach ist —, und aus keinem anderen Grund.«
»Dann wirst du heute Abend also nicht reden? Keinen einzigen Ton von dir geben?«, fragte Tessa.
»Nicht, solange du es mir nicht ausdrücklich befiehlst«, bestätigte Will.
»Dann könnte dieser Abend ja doch noch angenehmer werden als erwartet«, stellte Tessa fest. Aber Will schien ihre Bemerkung nicht gehört zu haben. Geistesabwesend straffte er eine der Metallmanschetten an seinem linken Handgelenk, in der ein Messer steckte, während er aus dem Fenster in die Ferne starrte, als sähe er irgendetwas, das sich Tessas Sicht entzog. »Du stellst dir Vampire möglicherweise als wilde Bestien vor, aber die Nachtkinder Londons strafen dieses Bild Lügen: Sie sind so kultiviert wie grausam — rasiermesserscharfe Stilette im Vergleich zu den stumpfen Klingen der Menschheit.« Die Konturen seines angespannten Kiefers zeichneten sich deutlich in der Dämmerung ab. »Du wirst dir Mühe geben müssen, um mit ihnen mitzuhalten. Und wenn du das nicht schaffst, dann halte um Himmels willen einfach den Mund. Diese Vampirgesellschaft legt äußersten Wert auf vollendete Umgangsformen. Ein unbedachter Verstoß gegen die komplizierte und undurchsichtige Etikette könnte deinen sofortigen Tod bedeuten.«
Tessa knetete die verschränkten Hände in ihrem Schoß so nervös, dass die Knöchel weiß hervortraten. Ihre Finger waren eiskalt — sie konnte die Kälte von Camilles Haut spüren, selbst durch ihre Handschuhe hindurch. »Ist das ein Scherz? So wie an dem Abend in der Bibliothek, als du etwas Ähnliches über das Fallenlassen des Codex gesagt hast?«
»Nein.« Seine Stimme klang weit entfernt.
»Will, du machst mir Angst«, platzte Tessa heraus, ehe sie sich besinnen konnte. Angespannt erwartete sie seine Reaktion und rechnete mit einer spöttischen Bemerkung.
Stattdessen wandte Will langsam den Blick vom Fenster ab und betrachtete sie auf eine Weise, als dämmerte ihm allmählich eine Erkenntnis. »Tess«, sagte er und Tessa zuckte innerlich zusammen — noch nie zuvor hatte jemand sie »Tess« genannt. Ihr Bruder hatte sie manchmal »Tessie« gerufen, aber das war auch schon alles gewesen.
»Du weißt, dass du das nicht zu tun brauchst, wenn du nicht möchtest, oder?«, fragte Will.
Tessa holte tief Luft, die sie eigentlich nicht benötigte. »Und was dann? Würden wir dann die Kutsche wenden und nach Hause fahren?«
Will beugte sich leicht vor und ergriff ihre Hände. Camilles Finger wirkten in seinen großen schwarzen Handschuhen so winzig, dass es den Eindruck erweckte, als würden sie darin verschwinden. »Alle für einen, einer für alle«, verkündete er fest.
Bei diesen Worten musste Tessa matt lächeln. »Die drei Musketiere?«
Er musterte sie ruhig aus seinen dunkelblauen Augen, die einen ganz eigenen Farbton besaßen. Natürlich war Tessa schon öfter Menschen mit blauen Augen begegnet, aber die hatten immer in einem hellen Blau geschimmert. Wills Pupillen leuchteten dagegen in der Farbe der einsetzenden Abenddämmerung und seine langen schwarzen Wimpern verschleierten ihren Blick ein wenig, als er erwiderte: »Wenn mir eine unangenehme Aufgabe bevorsteht ... wenn ich etwas tun muss, was ich nicht will, dann bilde ich mir manchmal ein, ich wäre eine Figur aus einem Buch. Auf diese Weise weiß ich leichter, was diese Person tun würde.«
»Wirklich? Und für wen gibst du dich dann aus? D’Artagnan?«, fragte Tessa und nannte damit den einzigen Namen, an den sie sich aus Die drei Musketiere erinnern konnte.
»›Es ist etwas weit, weit Besseres, was ich tue, als was ich je getan habe; und die Ruhe, in die ich eingehe, ist eine weit, weit bessere, als mir je zuteilwurde‹«, zitierte Will.