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»Sydney Carton? Aber hast du nicht gesagt, du würdest Eine Geschichte aus zwei Städten hassen?!«

»Das war gelogen«, entgegnete Will unbekümmert.

»Aber Sydney Carton ist doch ein zügelloser Trunkenbold!«

»Genau. Hier haben wir es mit einem nichtswürdigen Mann zu tun, der sich seiner Nichtswürdigkeit vollkommen bewusst ist. Doch sosehr er seine Seele auch zugrunde richtet, ein Teil von ihm ist immer noch zu großartigen Taten fähig.« Will senkte die Stimme. »Was sagt er noch mal zu Lucie Manette? Dass er trotz seiner Schwäche noch immer brennen könne?«

Tessa, die Eine Geschichte aus zwei Städten öfter gelesen hatte, als sie zählen konnte, wisperte: »›Und doch gab ich der Schwäche nach, und sie hat noch immer Macht über mich zu wünschen, dass Sie erfahren möchten, mit welcher plötzlichen Gewalt Sie den Aschenhaufen, der ich bin, in helle Lohe umgewandelt haben.‹« Sie zögerte einen Moment und fügte dann hinzu: »Aber das hat er gesagt, weil er sie liebte.«

»Ja«, bestätigte Will. »Er liebte sie hinreichend genug, um zu wissen, dass sie ohne ihn besser dran war.«

Seine Hände hielten ihre noch immer fest und die Wärme seiner Finger brannte sich durch Tessas Handschuhe. Beim Besteigen der Kutsche im Vorhof des Instituts hatte der böige Wind seine tintenschwarzen Haare zerzaust, wodurch er nun jünger wirkte und verwundbarer. Und auch der Blick in seinen Augen erschien Tessa verwundbar ... offen wie eine Tür. Sie hätte niemals für möglich gehalten, dass Will einen anderen Menschen auf solch eine Weise ansehen konnte oder wollte, wie er nun sie anschaute. Wenn sie hätte erröten können, wäre sie jetzt feuerrot angelaufen, schoss es ihr durch den Kopf.

Und im nächsten Moment wünschte sie, sie hätte nichts dergleichen gedacht. Denn dieser Gedanke führte unweigerlich zu einer unangenehmeren Frage:

Sah er in diesem Augenblick sie, Tessa, oder Camille, eine in der Tat atemberaubende Schönheit? War das der Grund für seinen veränderten Gesichtsausdruck? Konnte er die wahre Tessa durch die Maskerade erkennen oder sah er nur ihre Hülle?

Tessa lehnte sich zurück und versuchte, ihm ihre Hände zu entziehen. Doch er hielt sie fest und es dauerte einen Moment, bis er sie freigab.

»Tessa ...«, setzte Will an, doch ehe er noch irgendetwas hinzufügen konnte, kam die Kutsche so abrupt zum Stehen, dass die Samtvorhänge hin und her schaukelten.

»Wir sind da!«, rief Thomas vom Kutschbock. Will holte tief Luft, öffnete den Türschlag, sprang hinunter auf den Gehweg und streckte Tessa die Hand entgegen, um ihr aus dem Gefährt zu helfen.

Tessa ergriff seine Hand, senkte beim Verlassen der Kutsche den Kopf, um keine der Rosen an Camilles Hut zu zerdrücken, und bildete sich fast ein, das Pochen seines kräftigen Pulsschlags durch die Handschuhe hindurch zu spüren. Eine deutliche Röte lag auf seinen Wangen und Tessa fragte sich, ob die beißende Kälte ihm das Blut ins Gesicht getrieben hatte oder irgendetwas anderes.

Dann standen sie vor einem stattlichen weißen Gebäude mit einem weißen Säulenportikus, das auf beiden Seiten von ähnlichen Bauwerken flankiert wurde. Eine breite Treppe führte zu einer wuchtigen, schwarz lackierten Doppeltür, deren schwere Flügel leicht geöffnet waren und einen schmalen Strahl schimmerndes Kerzenlicht auf die weißen Treppenstufen warfen. Tessa drehte sich zu Will um. Hinter ihm sah sie Thomas, der auf dem Kutschbock saß, den Hut tief in die Stirn gezogen. Auch seine Pistole mit dem Silberknauf steckte so tief in seiner Westentasche, dass sie der Sicht vollkommen entzogen war.

Irgendwo tief in ihrem Kopf hörte Tessa Camille lachen und wusste sofort — ohne genau sagen zu können, woher —, dass die Vampirdame sich über ihre stille Bewunderung für Will amüsierte. Da bist du ja endlich, dachte Tessa erleichtert, trotz ihrer Verärgerung über Lady Belcourts spöttische Belustigung. Sie hatte sich schon Sorgen gemacht, dass sie Camilles innere Stimme überhaupt nicht mehr zu fassen bekommen würde.

Langsam wandte sie sich von Will ab und hob das Kinn. Diese arrogante Haltung entsprach eigentlich nicht ihrem Naturell — dafür dem von Lady Belcourt umso mehr. »Du wirst mich nicht mehr mit ›Tessa‹ anreden, sondern so wie es sich für einen Bediensteten geziemt«, beschied sie Will, mit leicht verächtlich verzogener Lippe. »Und jetzt komm.« Herrisch drehte sie den Kopf in Richtung des Hauses und stieg die Stufen hinauf, ohne sich zu vergewissern, ob er ihr auch folgte.

Ein elegant livrierter Lakai erwartete sie am oberen Ende der Treppe. »Eure Ladyschaft«, murmelte er, und als er sich vor ihr verbeugte, konnte Tessa die beiden Einstiche an seinem Hals erkennen, direkt oberhalb des Kragens. Sie drehte den Kopf, um sicherzugehen, dass Will sich dicht hinter ihr befand, und wollte ihn gerade dem Domestiken vorstellen, als Camilles innere Stimme ihr zuflüsterte: »Wir machen unsere menschlichen Schoßhündchen nicht miteinander bekannt. Sie sind unser namenloser Besitz — es sei denn, wir entschließen uns, ihnen einen Namen zu geben.«

Pfui, dachte Tessa entrüstet und nahm in ihrer Empörung nur am Rande wahr, wie der Lakai sie durch einen langen Gang zu einem großen Saal mit weißem Marmorboden geleitete. Dort verbeugte er sich erneut und zog sich zurück, während Will an ihre Seite trat und genau wie Tessa einen Moment lang sprachlos auf die Szenerie vor ihnen starrte.

Der riesige Saal wurde nur von Kerzenschein erhellt: Über den gesamten Raum waren Dutzende goldener Leuchter verteilt, in denen dicke weiße Wachskerzen brannten. Und aus den Wänden ragten elegant gemeißelte Marmorhände mit jeweils einer scharlachroten Kerze, deren rotes Wachs wie Rosenblütenblätter über den weißen Marmor tropfte.

Zwischen den Kerzenleuchtern drängten sich Hunderte von Vampiren, mit Gesichtern so weiß wie Wolken und eleganten, geschmeidigen, fast fließenden Bewegungen. Tessa konnte ihre Ähnlichkeit mit Camille erkennen, die Gesichtszüge, die sie miteinander teilten — die makellose Haut, die dunklen, wie Juwelen schimmernden Augen, die bleichen Wangen mit einem Hauch von Rouge. Manche Vampire wirkten menschlicher als andere und viele waren in der Mode vergangener Epochen gekleidet — die Männer mit Kniehosen und Halstüchern, die Frauen mit Röcken so üppig und aufgebauscht wie Marie Antoinettes Roben oder mit schweren Schleppen, Spitzenmanschetten und zarten Rüschen.

Fieberhaft schweifte Tessas Blick durch den Saal, auf der Suche nach einer vertrauten Gestalt mit blonden Haaren, doch Nathaniel war nirgends zu sehen. Stattdessen musste sie sich Mühe geben, eine hochgewachsene, hagere Frau nicht allzu auffällig anzustarren, die im Stil des vorherigen Jahrhunderts gekleidet war, mit hoher, stark gepuderter Perücke und noch weißerem, blutleerem Gesicht. »Ihr Name lautet Lady Delilah, wisperte Camilles Stimme in Tessas Kopf. Lady Delilah hielt eine kleine Gestalt an der Hand und Tessa zuckte innerlich zurück — ein Kind, hier an diesem Ort? Doch als die Gestalt sich umdrehte, erkannte Tessa, dass es sich dabei ebenfalls um einen Vampir handelte, mit tief liegenden dunklen Augen, die wie schwarze Löcher in dem runden, kindlichen Gesicht brannten. Als er Tessa ein sardonisches Lächeln schenkte, kamen seine weißen Fangzähne zum Vorschein.

»Wir müssen nach Magnus Bane Ausschau halten«, raunte Will Tessa leise zu. »Er soll uns eigentlich sicher durch dieses Durcheinander geleiten. Wenn ich ihn sehe, werde ich ihn dir zeigen.«

Tessa wollte darauf gerade erwidern, dass Camille Magnus für sie erkennen würde, als ihr Blick auf einen schlanken Mann mit einer Fülle heller Haare fiel, der einen schwarzen Frack trug. Sofort spürte sie, wie ihr Herz einen Satz machte. Doch als er sich umdrehte, wich ihre Freude bitterer Enttäuschung: Dieser Mann war nicht Nathaniel, sondern ein Vampir mit einem bleichen, kantigen Gesicht. Seine Haare schimmerten nicht blond wie die ihres Bruders, sondern wirkten im Kerzenschein fast farblos. Er nickte Tessa zu und steuerte dann in ihre Richtung, wobei er sich langsam einen Weg durch die Menge bahnte, unter der sich außer Vampiren auch vereinzelt Domestiken befanden. Diese trugen glänzende Serviertabletts mit leeren Gläsern. Neben den Gläsern lag jeweils ein Set unterschiedlicher Silberutensilien, allesamt mit scharfer Spitze: von Messern bis hin zu dünnen Gerätschaften, die an Schusterahlen erinnerten.