Während Tessa verwirrt auf eines dieser Tabletts starrte, wurde der Domestik, der gerade an ihr vorbeiging, von der Dame mit der weiß gepuderten Perücke angehalten. Herrisch schnippte sie mit den Fingern und der Finsterling — ein blasser Junge in grauer Livree — drehte gehorsam den Kopf zur Seite. Mit ihren spindeldürren Fingern nahm die Vampirin eine feine Ahle vom Tablett und zog deren scharfe Spitze langsam über den Hals des Domestiken, direkt unterhalb des Kiefers. Die Gläser auf dem Tablett klirrten, als seine Hand zu zittern begann, doch er ließ das Tablett nicht fallen — nicht einmal, als die Frau eines der Gläser nahm und es ihm so an die Kehle presste, dass das Blut in einem dünnen Rinnsal hineinströmte. Tessa wurde übel, in einer plötzlich aufwallenden Mischung aus Abscheu und ... Hunger. Sie konnte den knurrenden Magen nicht leugnen, auch wenn es eigentlich nicht ihrer war. Doch viel stärker als Camilles Blutdurst wog ihr eigenes Entsetzen: Wie gelähmt sah sie zu, wie die Vampirin das Glas an die Lippen führte und trank, während der Junge mit grauem Gesicht zitternd danebenstand.
Am liebsten hätte sie nach Wills Hand gegriffen, aber eine Vampir-Baronesse würde niemals die Hand ihres Domestiken halten. Also richtete Tessa sich hoheitsvoll auf und befahl Will mit einem gebieterischen Fingerschnippen an ihre Seite. Überrascht schaute der Schattenjäger auf und gehorchte schließlich ihrem Befehl, wobei er seine Verärgerung nur mühsam verhehlen konnte. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Rolle zu spielen. »Nun lauf doch nicht einfach so herum, William«, tadelte sie ihn mit einem bedeutungsvollen Blick. »Ich will dich in dieser Menge nicht verlieren.«
Will presste die Kiefer zusammen. »Irgendwie beschleicht mich das seltsame Gefühl, dass du das Ganze genießt«, stieß er leise hervor.
»Daran ist doch nichts Seltsames.« In einem Anflug ungeahnter Kühnheit klapste Tessa ihm mit der Spitze ihres feinen Fächers unter das Kinn. »Verhalte dich einfach nur gebührlich.«
»Es ist ja so mühsam, sie abzurichten, nicht wahr?«
Der Mann mit den farblosen Haaren tauchte vor Tessa aus der Menge auf und verneigte sich kurz vor ihr.
»Domestiken, meine ich«, fügte er hinzu. Offenbar deutete er ihren bestürzten Gesichtsausdruck fälschlicherweise als Verwirrung. »Und wenn sie dann endlich vernünftig abgerichtet sind, sterben sie urplötzlich an der einen oder anderen Krankheit. Empfindliche Geschöpfe, diese Menschen — ihre Lebensdauer übersteigt kaum die eines Schmetterlings.«
Er lächelte spöttisch, wobei seine glänzenden Zähne zum Vorschein traten. Seine Gesichtshaut schimmerte im bläulichen Weiß verdichteter Eisschollen, sein schulterlanges, fast weißes, aalglattes Haar streifte gerade eben den Kragen seines eleganten dunklen Mantels und die darunter hervorschauende graue Seidenweste zeigte ein Muster aus miteinander verwobenen, wirbelnden silberfarbenen Symbolen. Er sah aus wie ein russischer Zar aus einem Bilderbuch. »Welch eine Freude, Sie wiederzusehen, Lady Belcourt«, näselte er, mit einer leichten Sprachfärbung. Allerdings kein französischer, sondern eher ein slawischer Akzent, überlegte Tessa. »Irre ich mich oder habe ich dich vorhin in einer neuen Kutsche vorfahren gesehen, meine liebe Camille?«, fuhr der Mann fort.
Das ist de Quincey, hauchte Camilles Stimme in ihrem Kopf. Und plötzlich tauchten Bilder vor ihrem inneren Auge auf, wie aus einem Quell, der jedoch kein Wasser hervorsprudelte, sondern Erinnerungen: Sie sah sich mit de Quincey tanzen, ihre Hände auf seinen Schultern. Dann stand sie unter dem weißen Himmel einer klaren Polarnacht bei einem schwarzen, reißenden Strom und beobachtete, wie er sich an einer blassen, lang hingestreckten Gestalt gütlich tat, die im Gras lag. Einen Sekundenbruchteil später saß sie reglos an einer langen Tafel, zwischen anderen Vampiren, und de Quincey, der am Kopf des Tisches gesessen hatte, sprang auf, schäumte vor Wut und schlug so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass dessen Marmorplatte feine Risse bekam. De Quincey schrie sie zornig an ... irgendetwas über einen Werwolf und über eine Beziehung, die sie noch bedauern würde. Dann war sie plötzlich allein in einem Raum, in völliger Dunkelheit, weinend auf einem Stuhl zusammengekauert. Und de Quincey kam herein, kniete sich neben ihren Stuhl, nahm ihre Hand und versuchte, sie zu trösten, obwohl er derjenige war, der ihren Kummer erst verursachte hatte. Vampire können weinen?, fragte Tessa sich und überlegte dann weiter: Die beiden kennen sich seit sehr langer Zeit ... Alexei de Quincey und Camille Beicourt. Einst waren sie Freunde und er glaubt, dass ihre Freundschaft noch immer Bestand hat.
»In der Tat, Alexei«, sagte sie nun. Gleichzeitig fiel ihr wieder ein, dass dies der Name war, an den sie sich ein paar Tage zuvor beim Abendessen zu erinnern versucht hatte — der fremdländische Name, den die Dunklen Schwestern erwähnt hatten. Alexei. »Ich brauchte dringend ein Kutsche mit etwas mehr ... Platz.« Mit hoch erhobenem Kopf streckte sie die Hand aus und stand reglos da, während er ihre Finger ergriff und seinen kalten Mund auf ihren Handschuh drückte.
De Quinceys Blick streifte von Tessa zu Will und er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Und wie ich sehe, hast du dir auch einen neuen Finsterling zugelegt. Dieser hier ist wahrlich recht annehmbar.« Er streckte seine hagere, blasse Hand aus und strich mit dem Zeigefinger über Wills Wange bis hinunter zum Kiefer. »Solch ein aparter Teint«, sagte er sinnend.
»Und diese Augen.«
»Vielen Dank«, erwiderte Tessa, so als würde sie sich für ein Kompliment über ihren erlesenen Geschmack bei der Wahl der Tapeten bedanken. Nervös beobachtete sie, wie de Quincey noch näher an Will heranrückte, der sehr bleich und angespannt wirkte. Und sie fragte sich, ob es ihm gelingen würde, die Beherrschung zu bewahren, wenn jede Faser seines Körpers in diesem Moment zweifellos Feind! Feind! schrie.
De Quincey ließ seinen Finger nun von Wills Kiefer zu seiner Kehle gleiten — zu der Stelle am Ansatz des Schlüsselbeins, wo das Blut unter der Haut pulsierte. »Genau hier«, lächelte er und dieses Mal waren seine weißen Fangzähne deutlich zu sehen, scharf und spitz wie Nadeln. Seine Lider senkten sich träge, und als er weitersprach, klang seine Stimme sinnlich und schwer. »Es macht dir doch nichts aus, Camille, oder? Wenn ich nur einen kleinen Biss ...«
Im nächsten Moment verwischte Tessas Sicht zu einer weißen Fläche, vor der sich de Quincey abzeichnete, die weiße Hemdbrust über und über mit scharlachrotem Blut bespritzt. Und dann sah sie einen Leichnam, der kopfüber an einem Baum neben dem dunklen, reißenden Strom hing. Bleiche Finger baumelten im tosenden schwarzen Wasser ...
Tessa Hand zuckte nach vorn, schneller als sie sich jemals hätte vorstellen können, und packte de Quinceys Handgelenk. »Nicht doch, mein Lieber«, flötete sie mit schmeichelnder Stimme. »Ich würde ihn wirklich gern noch ein Weilchen für mich behalten. Du weißt doch, wie unersättlich du manchmal sein kannst«, fügte sie hinzu und senkte kokett die Lider.
De Quincey lachte leise. »Für dich, Camille, werde ich Zurückhaltung üben.« Dann zog er sein Handgelenk zurück und einen winzigen Moment glaubte Tessa, hinter seinem flirtenden Gehabe einen Anflug von Wut in den Augen aufblitzen zu sehen, der jedoch rasch verschwand. »Im Gedenken an unsere langjährige Freundschaft«, fügte er hinzu.
»Ich danke dir, Alexei.«
»Hast du schon Gelegenheit gehabt, eingehender über mein Angebot nachzudenken und dem Pandemonium Club beizutreten, meine Liebe?«, fragte er. »Ich weiß, die Irdischen langweilen dich, aber sie sind ein Quell nie versiegender Mittel. Wir im Vorstand des Clubs stehen kurz vor einer sehr ... aufregenden Entdeckung. Ich spreche von Macht, die deine kühnsten Träume übertrifft, Camille.«