In Mrs Blacks Stimme schwang nicht eine Spur von Reue oder Gefühl mit.
Mrs Dark kicherte. »Ich weiß, was sie jetzt denkt. Sie denkt: Wenn sie alles bekommen kann, was sie will, dann wird sie sich unseren Tod wünschen.«
»Vergeude deine Zeit nicht damit, etwas Derartiges auch nur in Erwägung zu ziehen!« Mrs Black versetzte Tessa einen Kinnstüber. »Wir haben einen hieb- und stichfesten Vertrag mit dem Magister. Er wird uns niemals schaden können, noch würde er das wollen. Schließlich ist er uns zu Dank verpflichtet, weil wir ihm dich überreichen.« Sie beugte sich vor und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern: »Er wünscht, dich gesund und wohlbehalten in Empfang zu nehmen. Du kannst dich also glücklich schätzen — denn ansonsten hätte ich dich grün und blau geprügelt. Wenn du es wagst, dich uns noch einmal zu widersetzen, werde ich seinen Wunsch ignorieren und dich auspeitschen lassen, bis deine Haut sich in Streifen von den Knochen löst. Hast du das verstanden?«
Statt einer Antwort wandte Tessa das Gesicht zur Wand.
An Bord der Main hatte es eine Nacht gegeben, in der Tessa nicht schlafen konnte und an Deck gegangen war, um frische Luft zu schnappen. Das Dampfschiff befand sich gerade auf Höhe von Neufundland und aus der nachtblauen Meeresoberfläche ragten weiß glitzernde Gebirge auf — Eisberge, wie ihr einer der Matrosen verriet. Große Eisbrocken, die sich aufgrund des warmen Wetters von der Eisdecke im Norden gelöst hatten. Langsam segelten sie auf der dunklen Wasserfläche wie die Türme einer versunkenen weißen Stadt. Ihr Anblick war Tessa unfassbar traurig und einsam erschienen.
Aber damals hatte sie nur einen ersten Eindruck von Einsamkeit bekommen, erkannte sie nun. Nachdem die Schwestern gegangen waren, verspürte Tessa nicht länger das Bedürfnis, in Tränen auszubrechen. Der Druck hinter ihren Lidern war verschwunden und einem dumpfen Gefühl der Verzweiflung gewichen. Mrs Dark hatte recht gehabt: Wenn Tessa den Tod der beiden Schwestern hätte veranlassen können, hätte sie keine Sekunde gezögert.
Probeweise zog sie an den Seilen, die ihre Arme und Beine an das Bettgestell fesselten, doch sie gaben nicht nach. Die Knoten waren so fest geknüpft, dass die Seile ihr tief in die Haut schnitten und die Blutzufuhr abschnürten. Ihre Hände und Füße hatten bereits zu prickeln begonnen. Ihr blieben vermutlich nur noch wenige Minuten, bis ihre Extremitäten vollkommen taub geworden waren, überlegte Tessa.
Ein — nicht gerade geringer — Teil von ihr hätte am liebsten aufgegeben und einfach nur dagelegen, bis der Magister gekommen wäre und sie abgeholt hätte. Der Himmel vor dem kleinen Fenster wirkte bereits dunkel; es konnte also nicht mehr lange dauern. Vielleicht wollte er sie ja wirklich heiraten. Vielleicht wollte er ihr ja tatsächlich alles geben, was ein Mädchen sich nur wünschen konnte.
Doch plötzlich hörte Tessa die Stimme ihrer Tante Harriet in ihrem Kopf: Wenn du einen Mann gefunden hast, den du heiraten möchtest, Tessa, dann denk daran: Nicht an seinen Worten, sondern an seinen Taten wirst du erkennen, welch eine Sorte Mann er ist.
Und natürlich hatte Tante Harriet recht: Kein Mann, den sie jemals würde heiraten wollen, hätte dafür gesorgt, dass sie wie eine Gefangene und eine Sklavin behandelt wurde. Und er hätte auch nicht ihren Bruder eingesperrt oder sie im Namen ihrer »Begabung« foltern lassen. Das Ganze war ein Hohn und ein Witz. Gott allein wusste, was dieser Magister mit ihr vorhatte, wenn er sie erst einmal in seine Finger bekam. Und falls er sie am Leben ließ, würde sie sich wahrscheinlich bald wünschen, lieber tot zu sein.
Himmel, was für eine nutzlose Begabung sie doch besaß! Die Macht, ihr Erscheinungsbild zu verändern. Wenn sie doch nur die Macht besäße, Dinge in Flammen aufgehen oder Metall zerbersten oder Messer aus ihren Fingern wachsen zu lassen! Oder wenn sie die Macht hätte, sich selbst unsichtbar zu machen oder auf die Größe einer Maus zu schrumpfen ...
Plötzlich wurde Tessa still, so still, dass sie das Ticken des Klockwerk-Engels an ihrer Brust hören konnte. Sie brauchte sich doch gar nicht auf die Größe einer Maus zu schrumpfen, oder? Sie musste sich lediglich so klein machen, dass die Fesseln um ihre Handgelenke locker herabhingen.
Sie wusste, dass sie sich ein zweites Mal in eine bestimmte Person verwandeln konnte, ohne irgendeinen Gegenstand zu berühren, der diesem Menschen gehört hatte. Die Dunklen Schwestern hatten ihr eingebläut, wie das funktionierte. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Tessa froh über eine ihrer Zwangslektionen. Sie drückte sich fest in die harte Matratze und rief sich die Bilder wieder vor Augen: die Gasse, die Küche, die tanzende Nadel, den Schein der Gaslaterne. Durch reine Willensanstrengung leitete Tessa die Verwandlung ein. Wie heißt du? Emma. Emma Bayliss ...
Die Verwandlung überrollte sie wie ein rasender Zug, nahm ihr fast den Atem, während sich ihre Haut veränderte und ihre Knochen sich neu zusammensetzten. Tessa unterdrückte den Schrei in ihrer Kehle und bäumte sich auf ...
Und dann war es vollbracht. Blinzelnd starrte sie an die Decke, anschließend zur Seite auf ihr Handgelenk und die Fesseln. Da waren sie: Emmas Hände, zart und zerbrechlich, und das Seil lag locker um ihre dünnen Gelenke. Triumphierend riss Tessa ihre Hände aus den Fesseln, setzte sich auf und rieb sich die roten Striemen auf der Haut.
Ihre Füße waren jedoch noch nicht freigekommen. Rasch beugte Tessa sich vor und fingerte fieberhaft an den Knoten herum. Wie sich herausstellte, war Mrs Black im Umgang mit Tauwerk geschickt wie ein Seemann: Als sich das Seil endlich löste, waren Tessas Finger eingerissen und blutig. Hastig richtete sie sich auf und sprang vom Bett.
Da Emma wesentlich dünnere und feinere Haare als Tessa besessen hatte, waren mehrere Strähnen aus den Klammern gerutscht, die Tessas Locken zurückgehalten hatten. Ungeduldig warf sie sie nach hinten und schüttelte sich, um Emmas Gestalt abzulegen. Die Verwandlung fiel von ihr herab und es dauerte nicht lange, bis Tessa wieder ihre eigenen, kräftigen Haare zwischen den Fingern spürte. Ein Blick in den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand verriet ihr, dass die kleine Emma Bayliss tatsächlich verschwunden und sie wieder sie selbst war.
Ein Geräusch hinter ihr ließ sie herumwirbeln. Der Knauf ihrer Zimmertür drehte sich — vor und zurück, als hätte die Person auf der anderen Seite Schwierigkeiten, die Tür zu öffnen.
Mrs Dark, durchfuhr es Tessa. Die Dunkle Schwester war zurückgekehrt, um sie auspeitschen zu lassen. Um sie zum Magister zu bringen. Tessa stürmte durch das Zimmer, schnappte sich den Porzellankrug vom Waschtisch und huschte lautlos neben die Tür. Dabei hielt sie den Krug so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Der Knauf drehte sich erneut und die Tür sprang auf. In der Dunkelheit konnte Tessa lediglich einen Schatten sehen, der nun das Zimmer betrat. Verzweifelt stürzte sie aus ihrem Versteck hervor und schwang den Krug mit aller Kraft ...
Die schemenhafte Gestalt bewegte sich schnell, so schnell wie ein Peitschenschlag, aber nicht schnell genug: Der Krug traf den ausgestreckten Arm des Schattens, ehe er Tessas Hand entglitt und krachend gegen die Wand schlug. Ein Hagel aus Porzellanscherben prasselte auf den Boden, während der Schemen aufschrie.
Der Schrei stammte unverkennbar von einem Mann. Genau wie der darauf folgende Schwall von Flüchen.
Tessa wich einen Schritt zurück und stürmte dann zur Tür, doch diese war wieder ins Schloss gefallen und ließ sich nicht öffnen, so sehr sie auch an dem Knauf rüttelte. Plötzlich erfüllte ein strahlendes Licht den Raum, so als wäre die Sonne aufgegangen. Tessa wirbelte herum, blinzelte gegen die Tränen in ihren Augen an und erstarrte.
Vor ihr stand ein junger Mann. Er konnte nicht viel älter sein als sie selbst — siebzehn, möglicherweise achtzehn — und trug augenscheinlich Arbeiterkleidung: eine ausgefranste schwarze Jacke und Hose und dazu robuste Stiefel, allerdings keine Weste. Breite Lederbänder liefen kreuzweise über seine Brust und Hüfte, Ledergurte, an denen Waffen befestigt waren — Dolche und Klappmesser und irgendwelche Objekte, die an Klingen aus Eis erinnerten. In der rechten Hand hielt der Eindringling eine Art Stein, der hell leuchtete und das Licht erzeugte, das Tessa fast geblendet hatte. Aus seiner anderen schlanken Hand mit den langen Fingern strömte Blut ... aus einer Wunde, wo Tessa ihn mit dem Porzellankrug getroffen hatte. Doch nicht die klaffende Wunde ließ Tessa wie gebannt auf die Erscheinung starren — der Mann besaß das attraktivste Gesicht, das sie je gesehen hatte: ein wilder schwarzer Haarschopf, strahlende, wie blaues Glas leuchtende Augen mit dichten, langen Wimpern, elegante Wangenknochen und ein voller, sinnlicher Mund. Selbst die Wölbung seiner Kehle wirkte perfekt. Er sah genau so aus, wie sie sich die Helden in ihren Lieblingsbüchern immer ausgemalt hatte. Allerdings hätte sie sich nie vorgestellt, dass einer dieser Helden sich jemals so heftig fluchend beschweren würde, während er anklagend seine blutende Hand in ihre Richtung streckte.