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Im nächsten Moment schien er ihren starren Blick zu bemerken, denn er unterbrach seine Verwünschungen. »Sie haben mir eine Schnittwunde zugefügt«, sagte er. Seine Stimme klang angenehm. Britisch. Durch und durch normal. Mit einem kritischen Blick musterte er seine Hand. »Eine möglicherweise tödliche Schnittwunde.«

Tessa schaute ihn weiterhin mit großen Augen an.

»Sind Sie der Magister?«

Der junge Mann ließ die Hand herabsinken. Blut strömte nach unten, tropfte auf den Boden. »Du meine Güte, massiver Blutverlust. Jeden Moment könnte der Tod eintreten.«

»Sind Sie der Magister?«

»Magister?« Die Vehemenz in Tessas Stimme ließ ihn leicht überrascht aufschauen. »Das bedeutet ›Meister‹ auf Lateinisch, nicht wahr?«

»Ich ... äh ...« Tessa kam sich vor wie in einem seltsamen Traum. »Ich schätze schon.«

»Ich habe in meinem Leben bereits viele Dinge gemeistert: mühelos durch das Straßengewirr Londons navigieren, Quadrille tanzen, die japanische Kunst des Blumensteckens, bei Scharaden lügen, ohne rot zu werden, einen starken Rauschzustand verbergen, junge Damen mit meinem Charme entzücken ...«

Tessa starrte ihn ungläubig an.

»Doch leider Gottes hat mich bisher noch niemand als ›der Meister‹ oder ›der Magister‹ bezeichnet«, fuhr er fort. »Da muss ich bedauerlicherweise passen ...«

»Sind Sie im Moment denn stark berauscht?« Tessa meinte diese Frage ernst, erkannte aber in dem Augenblick, als die Worte über ihre Lippen kamen, dass sie schrecklich grob geklungen haben musste — oder, schlimmer noch, kokett. Der Mann wirkte ohnehin zu sicher auf den Beinen, als dass er betrunken sein konnte. Tessa hatte Nate oft genug berauscht erlebt, um den Unterschied genau zu kennen. Aber vielleicht war er ja auch einfach nur verrückt.

»Wie erfrischend unverblümt! Aber ich vermute einmal, alle Amerikaner sind so direkt wie Sie, habe ich recht?« Der junge Mann wirkte belustigt. »Jaja, Ihr Akzent hat Sie verraten. Wie heißen Sie denn?«

Tessa schaute ihn fassungslos an. »Wie ich heiße?«

»Ja, wissen Sie das denn nicht?«

»Sie ... Sie platzen einfach so in mein Zimmer, erschrecken mich fast zu Tode und jetzt wollen Sie meinen Namen wissen? Wie um alles in der Welt heißen Sie denn? Und wer sind Sie überhaupt?«

»Mein Name ist Herondale«, erwiderte der Junge unbekümmert. »William Herondale, aber alle nennen mich Will. Ist das wirklich Ihr Zimmer? Nicht sehr einladend, muss ich sagen.« Er spazierte in Richtung Fenster, hielt kurz inne, um die Bücherstapel auf Tessas Nachttisch zu studieren, und wandte sich dann dem Bett zu. »Schlafen Sie öfter ans Bett gefesselt?«, fragte er und deutete mit einer Handbewegung auf die Seile.

Tessa spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, und war gleichzeitig verwundert, dass sie unter diesen Umständen tatsächlich noch die Kraft hatte, peinlich berührt zu reagieren. Sollte sie ihm die Wahrheit sagen? Bestand vielleicht die Möglichkeit, dass er doch der Magister war? Andererseits hätte ein Mann mit seinem Äußeren es wohl kaum nötig gehabt, ein Mädchen fesseln und einsperren zu lassen, damit sie ihn heiratete.

»Hier. Halten Sie das mal.« Er reichte ihr den glühenden Stein. Als Tessa ihn entgegennahm, erwartete sie fast, sich die Finger daran zu verbrennen, doch der Stein fühlte sich kühl an. In dem Moment, als er ihre Handfläche berührte, erlosch das Licht zu einem schimmernden Flackern. Bestürzt sah Tessa in Richtung des Jungen, aber der war bereits auf die Fensterbank geklettert und schaute hinaus, scheinbar ungerührt. »Ein Jammer, dass wir im dritten Geschoss sind. Mir würde ein Sprung nach unten zwar gelingen, aber Sie würden das vermutlich nicht überleben. Nein, wir müssen durch die Tür und unser Glück durch das Haus versuchen.«

»Durch das Haus versuchen ... wie bitte?« Tessa, die von einem Zustand der Verwirrung in den nächsten fiel, schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht ganz.«

»Wie können Sie das denn nicht verstehen?« Er deutete auf ihre Bücher. »Sie lesen Romane. Da ist es doch offensichtlich, dass ich hier bin, um Sie zu retten. Oder sehe ich etwa nicht aus wie Sir Galahad?«

Theatralisch hob er die Arme. »›Meine Stärke ist die Stärke von zehn, denn mein Herz ist rein ...‹«

Plötzlich ertönte ein schwacher Hall, der aus den Tiefen des Hauses zu kommen schien ... das Echo einer zuschlagenden Tür.

Im nächsten Moment stieß Will ein Wort aus, das Sir Galahad niemals gesagt hätte, und sprang von der Fensterbank. Mit einem schmerzverzerrten Zucken landete er auf dem Boden und warf einen wehmütigen Blick auf seine verletzte Hand. »Darum werde ich mich später kümmern müssen. Kommen Sie, Miss ...«

Er warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Miss Gray«, ergänzte Tessa matt. »Miss Theresa Gray.«

»Miss Gray«, wiederholte er. »Folgen Sie mir, Miss Gray.« Er lief an ihr vorbei zur Tür, drehte den Knauf, zog daran und ... Nichts passierte.

»Das geht so nicht«, erklärte Tessa. »Diese Tür lässt sich nicht von innen öffnen.«

Will grinste spöttisch. »Ach nein?« Blitzschnell griff er nach seinem Ledergurt und zückte eines der daran befestigten Objekte, das an einen langen, dünnen Zweig aus einem silbrig weißen Material erinnerte. Dann drückte er den Stab gegen die Tür und begann zu zeichnen. Dicke schwarze Linien flossen aus der Spitze des biegsamen Stabs und erzeugten ein deutliches Zischen, während sie sich wie verschüttete Tusche über die Holzoberfläche der Tür ausbreiteten.

»Sie wollen eine Zeichnung anfertigen?«, fragte Tessa skeptisch. »Ich wüsste wirklich nicht, was das bewirken sollte ...«

Im nächsten Moment ertönte ein Geräusch wie von splitterndem Glas. Der Türknauf, der mit der Stabspitze nicht in Berührung gekommen war, drehte sich ... erst langsam, dann schneller und schließlich sprang die Tür auf, während von ihren Angeln dünne schwarze Rauchfahnen aufstiegen.

»Jetzt wissen Sie es«, sagte Will, steckte das merkwürdige Objekt wieder ein und bedeutete Tessa, ihm zu folgen. »Lassen Sie uns von hier verschwinden.«

Unerklärlicherweise zögerte Tessa einen Moment und wandte sich dem Zimmer zu, das während der vergangenen Wochen ihr Gefängnis gewesen war.

»Meine Bücher ...«

»Ich besorge Ihnen neue Bücher«, erwiderte Will, drängte sie in den Korridor vor ihm und zog die Tür fest zu. Dann packte er sie am Handgelenk und schob sie durch den Flur und um eine Ecke herum. Vor ihnen lag die Treppe, die Tessa so viele Male mit Miranda hinabgestiegen war. Will nahm zwei Stufen auf einmal und zog sie hinter sich her.

Plötzlich ertönte aus dem Geschoss über ihnen ein Schrei — unverkennbar Mrs Darks Stimme.

»Man hat Ihr Verschwinden bemerkt«, stellte Will fest. Inzwischen hatten sie die erste Etage erreicht. Tessa verlangsamte ihre Schritte, wurde aber von Will weitergezerrt, der keine Pause zu dulden schien.