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»Das solltest du besser lassen«, sagte Will, dessen blaue Augen sich verdüsterten. »Bilde dir nur nicht ein, du würdest Jem besser kennen als ich.«

»Wenn dir so viel an ihm liegt, warum unternimmst du dann nicht etwas, um ihm zu helfen? Warum suchst du nicht nach einem Heilmittel?«, konterte Tessa.

»Glaubst du ernsthaft, wir hätten nicht danach gesucht? Denkst du, Charlotte hätte keine intensiven Nachforschungen angestellt und Henry nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt? Meinst du wirklich, wir hätten nicht zig Hexenmeister bemüht, für jede Information gezahlt und etliche um Gefälligkeiten gebeten? Glaubst du etwa, Jems drohender Tod wäre eine Tatsache, die wir alle einfach so hinnehmen, ohne auch nur im Geringsten dagegen anzukämpfen?«, hielt Will entgegen.

»Jem hat mir gesagt, er habe euch alle gebeten, die Suche einzustellen«, erwiderte Tessa ruhig, obwohl sie Wills Wut spüren konnte. »Und ihr habt seinem Wunsch entsprochen — stimmt das etwa nicht?«

»Das hat er dir erzählt?«

»Habt ihr die Suche aufgegeben?«

»Da gibt es nichts zu suchen, Tessa. Es existiert kein Heilmittel.«

»Das weißt du doch gar nicht. Ihr könntet einfach weiterhin Ausschau halten, Jem aber nichts davon erzählen. Vielleicht findet sich ja doch ein Weg. Selbst die geringste Möglichkeit ...«

Will hob die Augenbrauen. Das flackernde Elbenlicht betonte seine hervortretenden Wangenknochen und die tiefen Schatten unter seinen Augen. »Dann meinst du also, wir sollten seinen Wunsch missachten?«

»Ich meine: Ihr solltet alles in eurer Macht Stehende versuchen — selbst wenn das bedeutet, dass ihr ihn anlügen müsst. Ich meine: Ich begreife einfach nicht, wieso ihr seinen drohenden Tod einfach so akzeptiert.«

»Und ich meine, du begreifst nicht, dass einem manchmal nur die Wahl zwischen Akzeptanz und Wahnsinn bleibt.«

Plötzlich räusperte sich jemand hinter Will und Tessa. »Was ist denn hier los?«, fragte eine vertraute Stimme aus den Schatten des Flurs.

Sowohl Tessa als auch Will waren so sehr ins Gespräch vertieft gewesen, dass sie nicht gehört hatten, wie Jem sich ihnen genähert hatte. Will zuckte schuldbewusst zusammen, ehe er sich seinem Freund zuwandte, der die beiden mit ruhigem Interesse betrachtete. Jem war vollständig bekleidet, erzeugte aber den Eindruck, als wäre er gerade aus einem Fiebertraum erwacht: Seine Haare standen in alle Richtungen und seine Wangen leuchteten rot.

Will wirkte überrascht und nicht besonders erfreut über Jems Anwesenheit. »Was tust du hier? Wieso bist du nicht im Bett?«, fragte er leicht gereizt.

»Ich habe eben mit Charlotte in der Eingangshalle gesprochen. Sie sagte, wir würden uns alle im Salon treffen, um mit Tessas Bruder zu reden«, erklärte Jem in sanftem Ton. Sein Gesichtsausdruck ließ keinerlei Rückschlüsse darauf zu, wie viel er von Tessas und Wills Diskussion mitbekommen hatte. »Immerhin geht es mir gut genug, um anderen zuzuhören«, fügte er hinzu.

»Ah, gut, da seid ihr ja alle.« Charlotte kam durch den Korridor geeilt, dicht gefolgt von Henry, Jessamine und Sophie. Jessie hatte sich umgezogen und trug nun eines ihrer hübschesten Kleider — aus hauchdünnem blauem Musselin, wie Tessa mit einem Blick feststellte. Außerdem drückte die junge Schattenjägerin eine gefaltete Wolldecke an ihre Brust, während Sophie ein schweres Tablett mit Tee und Sandwiches balancierte.

»Ist das für Nate?«, fragte Tessa überrascht. »Der Tee und die Decke?«

Sophie nickte. »Mrs Branwell dachte, dass Ihr Bruder bestimmt hungrig wäre ...«

»Und ich dachte, dass ihm vielleicht kalt ist. Er hat letzte Nacht so fürchterlich gezittert«, warf Jessamine eifrig ein. »Sollen wir ihm die Sachen nun bringen oder nicht?«

Charlotte schaute zu Tessa, um ihre Einwilligung abzuwarten — eine Geste, die Tessa entwaffnete. Charlotte würde freundlich zu Nate sein; sie konnte gar nicht anders. »Ja, geht nur. Er erwartet euch bereits.«

»Danke, Tessa«, sagte Charlotte leise, drückte dann die Salontür auf und betrat den Raum, die anderen im Schlepptau. Als Tessa ihnen folgen wollte, spürte sie plötzlich eine Hand auf ihrem Arm — die Berührung war so leicht, dass sie sie fast nicht bemerkt hätte. Jem stand dicht neben ihr. »Warte«, sagte er. »Nur einen Moment.«

Aufmerksam wandte Tessa sich ihm zu. Durch die offene Salontür konnte sie leises Stimmengewirr hören — Henrys freundlichen Bariton und Jessamines eifrig bemühte Fistelstimme, die sich beinahe überschlug, als sie Nates Namen rief. »Was ist denn, Jem?«, fragte Tessa.

Jem zögerte. Seine Hand auf Tessas Arm war kühl und seine Finger fühlten sich an, als würde sie von dünnen, kalten Glasstielen berührt. Sie fragte sich, ob die Haut auf seinen geröteten, fiebrigen Wangen wohl mehr Wärme ausstrahlte.

»Aber meine Schwester ...«, drang Nates besorgte Stimme in den Flur. »Wird sie auch dabei sein? Wo ist sie?«

»Ach, nicht weiter wichtig. Es ist nichts«, erklärte Jem und ließ seine Hand mit einem beruhigenden Lächeln sinken. Tessa wunderte sich einen Moment, drehte sich dann aber um und betrat den Salon, dicht gefolgt von Jem.

Sophie kniete vor dem offenen Kamin und versuchte, ein Feuer zu entfachen. Nate saß noch immer in seinem Sessel, Jessamines Wolldecke über den Knien, während diese neben ihm auf einem herbeigerückten Stuhl thronte und vor Stolz strahlte. Henry und Charlotte hatten sich auf dem Sofa gegenüber von Nate niedergelassen und Will lehnte wie üblich an der Wand, wobei er einen gleichermaßen gereizten wie belustigten Eindruck machte.

Während Jem sich zu Will gesellte, konzentrierte Tessa ihre Aufmerksamkeit auf ihren Bruder. Seine Anspannung hatte ein wenig nachgelassen, nachdem sie den Raum betreten hatte, doch er sah noch immer erbärmlich aus und zupfte nervös an der Wolldecke. Rasch durchquerte sie den Raum und ließ sich auf dem Polsterhocker zu seinen Füßen nieder. Dabei unterdrückte sie tapfer den Drang, ihm durch die Haare zu fahren oder seine Schulter zu tätscheln — nur allzu deutlich spürte sie alle Blicke auf sich ruhen. Sämtliche Anwesenden beobachteten sie und ihren Bruder und dann wurde es so still im Salon, dass man eine Nadel hätte fallen hören können.

»Nate«, setzte Tessa leise an, »ich darf annehmen, dass alle anderen sich bereits selbst vorgestellt haben?«

Nathaniel, der weiterhin an der Decke herumzupfte, nickte.

»Mr Gray«, begann Charlotte nun, »wir haben mit Mr Mortmain gesprochen. Er hat uns viel über Sie erzählt, beispielsweise über Ihre Schwäche für die Schattenwelt und darüber, dass Sie Glücksspiele aller Art lieben.«

»Charlotte«, protestierte Tessa.

Nate seufzte und erwiderte mit schwerer Stimme:

»Sie hat recht, Tessie.«

»Niemand gibt deinem Bruder die Schuld an dem, was geschehen ist, Tessa«, erklärte Charlotte. Dann wandte sie sich in sanftem Ton wieder an Nate:

»Mortmain sagte, Sie hatten bei Ihrer Ankunft in London bereits Kenntnis von seinen Verwicklungen in okkulte Machenschaften. Woher wussten Sie, dass er dem Pandemonium Club angehört?«

Nate zögerte.

»Mr Gray, wir versuchen einfach zu verstehen, was genau Ihnen widerfahren ist. Und warum de Quincey sich so für Sie interessiert. Ich weiß, Sie sind nicht wohlauf, und ich hege ganz gewiss nicht den Wunsch, Sie einem grausamen Verhör zu unterziehen. Aber wenn Sie uns nur ein paar Informationen liefern könnten, wäre das für uns von unschätzbarem Wert ...«

»Ich habe durch Tante Harriets Nähkästchen davon erfahren«, sagte Nate mit leiser Stimme.

Tessa blinzelte verwundert. »Woher?«

»Du erinnerst dich doch bestimmt, dass Tante Harriet Mutters alte Schmuckschatulle auf dem Nachttisch an ihrem Bett hütete, oder?«, fuhr er fort. »Sie hat immer behauptet, sie würde darin ihre Nähutensilien aufbewahren, aber ich ...« Nate holte tief Luft und schaute Tessa verlegen an. »Damals war ich hoch verschuldet. Ich hatte ein paar unbesonnene Wetten platziert, viel Geld verloren und konnte meine Schulden nicht begleichen. Aber ich wollte nicht, dass du oder Tante Harriet davon erfahrt. Nach langem Grübeln erinnerte ich mich an ein Goldarmband, das Mutter früher immer getragen hatte. Irgendwie hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, dass das Armband noch in der Schmuckschatulle sein musste und dass Tante Harriet nur zu halsstarrig war, es zu veräußern. Du weißt ja, wie sie ist — wie sie war. Jedenfalls ließ mich der Gedanke einfach nicht mehr los. Ich wusste, wenn ich das Armband versetzte, konnte ich mit dem dafür erhaltenen Geld all meine Schulden bezahlen. Also bin ich eines Tages, als ihr beide nicht im Haus wart, in Tante Harriets Schlafzimmer gegangen, habe mir das Kästchen gegriffen und es durchsucht.