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Natürlich lag das Armband nicht mehr darin. Aber ich stieß auf ein Geheimfach im Boden der Schatulle, in dem sich nichts von besonderem Wert befand ... nur ein Bündel alter Dokumente. Als ich hörte, wie du die Treppe hinaufkamst, habe ich mir das Bündel gepackt und mit in mein Zimmer genommen.« Nate hielt inne. Sämtliche Augen waren auf ihn geheftet.

Nach einem kurzen Moment konnte Tessa sich nicht länger zurückhalten: »Und?«

»Bei den Dokumenten handelte es sich um Seiten aus Mutters Tagebuch«, fuhr Nate schließlich fort.

»Sie waren aus ihrem ursprünglichen Einband herausgerissen worden. Zwar fehlten einige Blätter, doch der Rest reichte, um mir die Zusammenhänge einer sehr seltsamen Begebenheit zusammenzureimen.

Die Geschichte begann, als unsere Eltern noch in London lebten. Vater war viel außer Haus — er hatte eine Stelle in Mortmains Verwaltungsbüro unten in den Docks angenommen — und so hatte Mom nur Tante Harriet, die ihr Gesellschaft leistete, und mich, um sie rund um die Uhr zu beschäftigen. Damals war ich gerade erst auf die Welt gekommen. Das Ganze ging so lange gut, bis Vater immer häufiger zutiefst besorgt abends nach Hause zurückkehrte. Er berichtete von seltsamen Vorgängen an seinem Arbeitsplatz, von Maschinenteilen mit merkwürdigen Funktionsstörungen, von Geräuschen zu später Abendstunde und von einem Wachmann, der eines Nachts spurlos verschwand. Außerdem ging das Gerücht um, dass Mortmain in okkulte Machenschaften verstrickt sei.«

Nate klang, als handelte es sich bei seinem Bericht um etwas, das er selbst erlebt hatte. »Zunächst ignorierte Vater das Gerede, doch schließlich erzählte er Mortmain davon, der daraufhin alles eingestand. Aus Mutters Aufzeichnungen schloss ich, dass dieser das Ganze als ziemlich harmlos darstellte — so als würde er sich nur zum Zeitvertreib mit Zauberformeln, Pentagrammen und derlei Dingen beschäftigten. Er bezeichnete die Organisation, der er angehörte, als den ›Pandemonium Club‹ und lud Vater ein, ihn zu einer der Zusammenkünfte zu begleiten — und Mutter ebenfalls mitzubringen.«

»Mutter mitzubringen? Aber das kann Vater doch nicht ernsthaft gutgeheißen haben ...«

»Vermutlich nicht. Andererseits muss Vater — mit einer jungen Frau und einem kleinen Kind — einiges daran gelegen gewesen sein, seinen Arbeitgeber nicht zu brüskieren. Deshalb willigte er schließlich ein.«

»Er hätte zur Polizei gehen sollen ...«, protestierte Tessa.

»Ein wohlhabender Mann wie Mortmain hatte die Polizei wahrscheinlich fest in der Tasche«, warf Will ein. »Wenn dein Vater zur Polizei gegangen wäre, hätte man ihn dort bestimmt nur ausgelacht.«

Nathaniel schob sich die Haare zurück; Schweißperlen standen auf seiner Stirn und mehrere Strähnen klebten an seiner verschwitzten Haut. »Mortmain sorgte dafür, dass eine Kutsche unsere Eltern zu später Abendstunde abholte, damit keiner der Nachbarn etwas davon mitbekam. Die Kutsche brachte die beiden zu Mortmains Stadthaus. Danach fehlen ein paar Seiten aus Mutters Tagebuch — und auch auf den darauf folgenden Blättern finden sich keine Informationen darüber, was in jener Nacht geschah. Ich konnte Mutters Notizen nur entnehmen, dass dies zwar der erste, aber nicht der letzte Besuch gewesen war: Im Laufe der nächsten Monate nahmen sie noch mehrmals an den Zusammenkünften des Pandemonium Club teil. Offenbar hat Mutter diese Treffen gehasst; trotzdem besuchten sie den Club noch eine ganze Weile, bis sich die Lage schlagartig änderte. Allerdings kann ich nicht sagen, was die Ursache für diese Veränderung war — die wenigen Seiten in Mutters Tagebuch ließen keine genauen Schlüsse zu. Ich konnte lediglich herauslesen, dass ihre Abreise aus London bei Nacht und Nebel erfolgte, dass sie niemandem davon erzählten und auch keine Nachsendeadresse hinterließen. Für die Nachbarn mussten sie wie vom Erdboden verschluckt gewesen sein. Doch der Grund für all diese Heimlichtuerei war in Mutters Notizen nicht zu finden ...« Ein trockener Hustenanfall unterbrach Nathaniels Ausführungen.

Sofort griff Jessamine nach der Teekanne, die Sophie auf einem Beistelltisch platziert hatte, und drückte Nate eine Tasse Tee in die Hand. Dabei bedachte sie Tessa mit einem bedeutungsvollen, überlegenen Blick, als wollte sie unterstreichen, dass Tessa eigentlich als Erste auf diesen Gedanken hätte kommen müssen.

Nachdem Nate seinen Husten mit einem Schluck Tee bekämpft hatte, fuhr er fort: »Der Fund von Mutters Tagebuchnotizen kam mir vor, als wäre ich auf eine Goldmine gestoßen. Von Mortmain hatte ich bereits gehört. Und ich wusste, dass er zwar sehr exzentrisch, aber eben auch steinreich war. Also schrieb ich ihm und erklärte ihm in meinem Brief, dass ich Nathaniel Gray sei, der Sohn von Richard und Elizabeth Gray. Und dass beide Eltern tot seien und ich im Nachlass meiner Mutter mehrere Dokumente gefunden hätte, die seine okkulten Aktivitäten beweisen würden. Zusätzlich gab ich ihm zu verstehen, dass ich es kaum erwarten könne, ihn kennenzulernen und mit ihm über eine mögliche Anstellung zu sprechen. Und falls er sich für eine Begegnung nicht gleichermaßen erwärmen wolle, würden mir sofort mehrere Zeitungen einfallen, die sich für das Tagebuch meiner Mutter bestimmt brennend interessieren würden.«

»Das war geschäftstüchtig«, bemerkte Will beinahe beeindruckt.

Nate lächelte, doch Tessa warf ihm einen wütenden Blick zu: »Schau nicht so selbstgefällig. Wenn Will ›geschäftstüchtig‹ sagt, meint er ›moralisch verwerflich‹.«

»Nein, ich meine ›geschäftstüchtig«‹, widersprach Will. »Wenn ich ›moralisch verwerflich‹ gemeint hätte, hätte ich gesagt: ›Also, das ist etwas, das ich getan hätte.‹«

»Das reicht jetzt, Will«, unterbrach Charlotte das Geplänkel. »Lass Mr Gray bitte seine Geschichte zu Ende erzählen.«

»Als ich diesen Brief an Mortmain schickte, nahm ich an, er würde mir vermutlich Geld senden, um mein Schweigen zu erkaufen«, fuhr Nate fort. »Stattdessen erhielt ich kurze Zeit später einen Erste-KlasseFahrschein für die Überfahrt nach London und ein offizielles Angebot für eine Stelle, die ich bei meiner Ankunft sofort antreten konnte. Nach kurzem Überlegen kam ich zu dem Schluss, dass dies eine gute Sache sei, und nahm mir zum ersten Mal in meinem Leben vor, das Ganze ausnahmsweise nicht zu vermasseln.

Als ich in London eintraf, fuhr ich sofort zu Mortmains Haus, wo man mich in sein Arbeitszimmer geleitete. Er begrüßte mich aufs Herzlichste und sagte, er freue sich außerordentlich, mich endlich kennenzulernen, und wie sehr ich meiner lieben verstorbenen Mutter ähneln würde. Dann wurde er ernst: Er bat mich, Platz zu nehmen, und erzählte mir, er habe meine Eltern immer sehr gemocht. Und es hätte ihn wirklich geschmerzt, als sie England verließen. Von ihrem Tod habe er erst aus meinem Brief erfahren. Und selbst wenn ich mit meinem Wissen doch noch an die Öffentlichkeit gehen wolle, würde er — schon allein um der alten Freundschaft willen — mir frohen Herzens eine Stelle anbieten und auch sonst alles in seiner Macht Stehende tun, um mir zu helfen.

Daraufhin erklärte ich Mortmain, dass sein Geheimnis bei mir sicher sei — sofern er mich zu einer der Zusammenkünfte des Pandemonium Club mitnehmen würde. Schließlich sei er es mir schuldig, mir genau das zu zeigen, was er auch meinen Eltern gezeigt habe. In Wahrheit hatte die Erwähnung des Spielsalons in Mutters Tagebuch mein Interesse geweckt. Vor meinem inneren Auge sah ich eine Gruppe von Männern, die dumm genug waren, an Magie und Teufelswerk zu glauben. Sicherlich konnte es nicht allzu schwer sein, diesen Narren ein wenig Geld abzuknöpfen.« Nate schloss einen Moment die Augen und fuhr dann fort: