Mit erstaunlicher Mühelosigkeit fand Tessa den Weg zu der massiven Wendeltreppe, die sich im Zentrum des Instituts vom obersten Stock bis zum Erdgeschoss erstreckte. Offenbar kannte sie sich inzwischen im Inneren des großen Gebäudes doch recht gut aus, konstatierte sie, während sie die Stufen hinunterlief und vor dem Eingangsportal auf Thomas stieß.
Er hielt ein gewaltiges Schwert in den Händen, die Spitze auf den Steinboden gestützt, und zog eine todernste Miene. Die wuchtige, doppelflügelige Institutstür stand weit offen und zeigte einen rechteckigen Ausschnitt der blauschwarzen Abenddämmerung, nur erhellt von den flackernden Elbenlichtfackeln im Innenhof. Als Thomas Tessa bemerkte, drehte er sich verblüfft zu ihr um. »Miss Gray?«
Tessa senkte ihre Stimme. »Was geht da draußen vor, Thomas?«
Der junge Mann zuckte die Achseln. »Das ist Mr Mortmain«, erwiderte er leise. »Eigentlich wollte er mit Mr und Mrs Branwell sprechen, aber da beide nicht im Haus sind ...«
Entschlossen marschierte Tessa auf die Tür zu. Einen winzigen Moment schaute Thomas verblüfft, setzte sich dann aber rasch in Bewegung, um sie daran zu hindern. »Miss Gray, ich glaube nicht ...«
»Du wirst schon dein Schwert benutzen müssen, um mich aufzuhalten, Thomas«, beschied Tessa ihm in kühlem Ton, woraufhin Thomas nach kurzem Zögern einen Schritt beiseitetrat. Tessa, die plötzlich Gewissensbisse verspürte, hoffte inständig, dass sie seine Gefühle nicht verletzt hatte, doch der junge Mann wirkte eher erstaunt als gekränkt.
Fast geräuschlos schob sie sich an ihm vorbei, hinaus auf die Stufen der Eingangstreppe, und blieb oberhalb von Will und Jem stehen. Eine kräftige Brise wehte vom Fluss herüber, fuhr ihr durch die Haare und ließ sie erschaudern. Am Fuß der Steintreppe stand der Mann, den sie vom Fenster aus betrachtet hatte. Er war nicht annähernd so groß, wie er von oben ausgesehen hatte: klein und drahtig, mit einem wettergegerbten, freundlichen Gesicht unter dem hohen Hut. Trotz seiner eleganten Kleidung besaß er die natürliche Ausstrahlung eines Seemanns oder Handwerkers — rau, aber aufrichtig.
»Ja«, bestätigte er gerade, »Mr und Mrs Branwell waren so freundlich, mir letzte Woche einen Besuch abzustatten. Und offensichtlich besaßen sie die noch größere Güte, Stillschweigen über unser Treffen zu bewahren.«
»Sie haben der Brigade nichts von Ihren okkulten Experimenten erzählt, falls es das ist, was Sie meinen«, erwiderte Will kurz angebunden.
Mortmain errötete. »Ja, damit haben sie mir einen großen Gefallen erwiesen. Und ich dachte, ich könnte mich dafür revanchieren, indem ich ...« Er verstummte und schaute an Will vorbei zu Tessa. »Wer ist das denn? Eine weitere Schattenjägerin?«
Will und Jem drehten sich gleichzeitig um und bemerkten Tessa auf dem obersten Treppenabsatz. Jem schien erfreut, sie zu sehen, während Will — wie nicht anders zu erwarten war — verstimmt und leicht sarkastisch reagierte. »Konntest wohl wieder nicht umhin, deine Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken, Tessa«, spöttelte er und wandte sich dann an Mortmain. »Dies ist Miss Gray. Nathaniel Grays Schwester.«
Mortmain wirkte betroffen. »Du meine Güte! Das hätte ich eigentlich erkennen müssen: Sie sind ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Miss Gray ...«
»Ehrlich gesagt, bin ich da ganz anderer Ansicht«, bemerkte Will so leise, dass Tessa bezweifelte, dass Mortmain ihn gehört hatte.
»Sie können Nate nicht sprechen, Mr Mortmain«, verkündete Tessa. »Ich weiß zwar nicht, ob das der Grund Ihres Besuchs ist, aber mein Bruder befindet sich nicht in bester Verfassung. Er muss sich in Ruhe von den Torturen erholen können, statt daran erinnert zu werden.«
Die Falten um Mortmains Mundwinkel vertieften sich. »Ich bin nicht gekommen, um Ihren Bruder zu sprechen«, sagte er betrübt. »Es ist mir bewusst, dass ich ihm gegenüber versagt ... meine Pflicht vernachlässigt habe. Daran hat Mrs Branwell keinen Zweifel gelassen ...«
»Sie hätten nach ihm suchen müssen«, stieß Tessa hervor. »Sie haben zugelassen, dass mein Bruder in die Tiefen der Verborgenen Welt gezogen werden konnte.« Ein kleiner Teil ihres Verstandes wunderte sich darüber, dass sie so kühn auftrat, doch das hinderte sie nicht, ungerührt fortzufahren: »Als Nathaniel Ihnen mitteilte, er würde fortan für de Quincey arbeiten, hätten Sie etwas unternehmen müssen. Sie wussten, um welche Sorte Mensch es sich bei de Quincey handelt — wenn man ihn überhaupt als einen Menschen bezeichnen kann.«
»Ich weiß.« Mortmain wirkte grau im Gesicht.
»Das ist auch der Grund meines Kommens. Ich möchte versuchen, meine Unterlassungen wiedergutzumachen.«
»Und was genau schlagen Sie diesbezüglich vor?«, fragte Jem, mit klarer, kräftiger Stimme. »Und warum ausgerechnet jetzt?«
Mortmain wandte sich an Tessa. »Ihre Eltern waren gute, ehrliche Menschen. Ich habe es all die Jahre bedauert, dass sie durch mich mit der Verborgenen Welt in Berührung gekommen sind. Damals habe ich das Ganze für ein amüsantes Spiel gehalten, ein harmloses Vergnügen. Doch inzwischen wurde ich eines Besseren belehrt. Um diese Schuld, die ich auf mich geladen habe, ein wenig zu kompensieren, werde ich Ihnen alles erzählen, was ich weiß — selbst wenn das bedeutet, dass ich England verlassen muss, um de Quinceys Zorn zu entgehen.« Er seufzte und fuhr dann fort: »Vor einiger Zeit gab de Quincey bei mir eine Reihe mechanischer Kleinteile in Auftrag — Zahnräder, Nocken, Getriebe und dergleichen. Ich habe nicht nachgehakt, wofür er sie benötigt; derartige Fragen stellt man dem Magister nicht. Erst als die Nephilim mich aufsuchten, dämmerte mir, dass diese mechanischen Teile möglicherweise einem sinisteren Zweck dienen könnten. Also zog ich Erkundigungen ein und ein Informant innerhalb des Clubs erzählte mir, dass de Quincey eine Armee zu schaffen beabsichtigte, eine Armee aus mechanischen Monstern, die die Schattenjäger vernichten sollen.« Bedrückt schüttelte er den Kopf. »De Quincey und seinesgleichen mögen die Nephilim verachten, aber ich nicht. Ich bin bloß ein kleines Menschlein und weiß nur zu gut, dass die Schattenjäger die Einzigen sind, die zwischen mir und einer Welt stehen, in der ich und alle anderen Menschen zum Spielball von Dämonen würden. De Quinceys Taten kann ich einfach nicht gutheißen.«
»Das klingt ja alles sehr schön«, erwiderte Will mit einem Hauch von Ungeduld in der Stimme, »aber bisher haben Sie uns noch nichts erzählt, was wir nicht bereits wussten.«
»Habt ihr denn auch gewusst, dass de Quincey zwei Hexen namens die Dunklen Schwestern beauftragt hat, eine Verquickungsformel zu entwickeln, mit deren Hilfe diese Kreaturen mit Dämonenenergie belebt werden sollen?«, fragte Mortmain.
»Ja, davon wissen wir«, bestätigte Jem. »Obwohl ich der Überzeugung bin, dass nur noch eine der Dunklen Schwestern existiert — die andere hat Will getötet.«
»Aber ihre Schwester hat sie mithilfe eines Beschwörungszaubers wieder zum Leben erweckt«, entgegnete Mortmain. In seiner Stimme lag ein triumphierender Unterton, als sei er erleichtert, dass er doch noch über eine Information verfügte, die den Schattenjägern bisher gefehlt hatte. »Genau in diesem Moment hocken die beiden Schwestern in einem Herrenhaus in Highgate — das einem anderen Hexenmeister gehörte, bis de Quincey ihn umbringen ließ — und arbeiten an der Verquickungsformel. Und wenn meine Quellen mich richtig informiert haben, werden die Dunklen Schwestern noch heute Nacht versuchen, die Formel anzuwenden.«
Will betrachtete Mortmain aus dunkelblauen, nachdenklichen Augen. »Vielen Dank für diese Informationen«, sagte er, »aber de Quincey wird schon bald keine Bedrohung mehr für uns darstellen — weder er noch seine mechanischen Monster.«
Erstaunt weiteten sich Mortmains Pupillen. »Geht der Rat denn gegen den Magister vor? Vielleicht gar heute Nacht?«
»Du meine Güte«, spöttelte Will. »Sie kennen ja wirklich alle Begriffe — sehr beunruhigend aus dem Munde eines Irdischen«, fügte er hinzu und lächelte freundlich.