›Unterschreiben Sie das Sicherstellungsprotokoll!‹, befahl er, als spreche er mit einem Fünfjährigen, ›und sorgen Sie dafür, dass niemand in die Nähe der Tasche kommt, bis ich sie mir wiederhole. Und Sie selbst stecken nicht die Nase hinein, haben Sie mich verstanden?‹
Jawohl, Sir, sagte Devane und lächelte mich zurückhaltend an. Ich beobachtete, wie er von Dr. Cathcarts Assistenten die Tasche mit den Beweismitteln entgegennahm. Sie hatte Ähnlichkeit mit so einer Sammelmappe, wie sie im Büro benutzt wird. Ich sah zu, wie er das Protokoll aus dem durchsichtigen Umschlag zog und … weißt du, wofür der Zettel gut ist, Steffi?«
»Ich glaube schon«, sagte sie. »Geht es nicht darum, dass der Staat im Fall einer Strafverfolgung lückenlos dokumentieren kann, in wessen Besitz sich die am Tatort gefundenen Gegenstände jeweils befanden, und zwar vom Moment des Auffindens bis zu dem Punkt, wenn sie irgendwann als Beweisstucke im Gerichtssaal auftauchen?«
»Schön ausgedrückt«, sagte Vince. »Du solltest Schriftstellerin werden.«
»Sehr lustig«, gab Stephanie zurück.
»Doch, doch, so ist unser Vincent, ein richtiger Oscar Wilde«,
sagte Dave. »Wenn er nicht gerade Oskar aus der Mülltonne ist. Egal, jedenfalls beobachtete ich, wie der junge Devane seine Unterschrift unter das Sicherstellungsprotokoll setzte und es wieder in den Umschlag auf der Tasche mit den Beweismitteln schob. Dann drehte er sich um und schaute zu, wie die Packer vom Beerdigungsinstitut den Toten hinten in den Leichenwagen luden.Vince war mittlerweile in die Redaktion zurückgekehrt, um den Artikel zu schreiben, und ich fuhr ebenfalls los. Den Leuten, die mir Fragen stellten – und das waren so einige, angezogen von dem dämlichen gelben Flatterband wie Ameisen von Zucker –, sagte ich, sie könnten das alles für nur einen Vierteldollar lesen. Damals kostete der Islander nämlich nicht mehr.
Jedenfalls sah ich Paul Devane damals zum letzten Mal. Er stand da und sah den beiden Gorillas dabei zu, wie sie den Toten in den Leichenwagen schoben. Doch zufällig weiß ich, dass Devane O’Shannys Anweisung missachtete, nicht in die Tasche mit den Beweismitteln zu sehen, denn ungefähr sechzehn Monate später rief er mich in der Redaktion des Islander an. Damals hatte er seinen Traum von der Rechtsmedizin bereits an den Nagel gehängt und drückte wieder die Schulbank, um Rechtsanwalt zu werden. Ob gut oder schlecht, dieser Sinneswandel war ursächlich auf die Beamten O’Shanny und Morrison zurückzuführen, dennoch war es Paul Devane, der den Unbekannten von Hammock Beach letztendlich zu Colorado Kid machte und es der Polizei ermöglichte, ihn zu identifizieren.«
»Und wir brachten es exklusiv«, sagte Vince. »Größtenteils weil unser Dave Bowie dem jungen Mann einen Donut spendiert hatte und ihm das schenkte, was man mit Geld nicht kaufen kann: ein offenes Ohr und ein bisschen Verständnis.«
»Na, jetzt trägst du aber ein bisschen dick auf«, sagte Dave und rutschte auf seinem Stuhl herum. »Ich war höchstens eine halbe Stunde mit ihm unterwegs. Maximal eine Dreiviertelstunde, wenn du die Zeit dazu zählst, die ich mit ihm in der Bäckerei Schlange stand.«
»Manchmal reicht das schon«, sagte Stephanie.
Dave erwiderte: »Ah jo, manchmal schon, und warum auch nicht? Wie schnell erstickt ein Mensch an einem Stück Fleisch und ist danach für alle Zeiten tot?«
Darauf wusste niemand etwas zu sagen. Auf dem Wasser tutete wichtigtuerisch die Yacht eines reichen Mannes, die auf den Anleger von Tinnock zusteuerte.
9
»Lass Paul Devane mal eine Zeit lang außen vor«, sagte Vince.
»Dave kann dir gleich den Rest erzählen. Ich muss dir vorher noch von der Leichenfledderei berichten.«
»Ah jo«, sagte Dave. »Das Ganze ist zwar keine echte Geschichte, Steffi, aber wahrscheinlich käme es jetzt als Nächstes, wenn es doch eine wäre.«
Vince sagte: »Nicht dass du glaubst, Cathcart hätte sich direkt an die Autopsie gemacht, das tat er nicht. Bei dem Brand in dem Mietshaus, der O’Shanny und Morrison überhaupt in unseren entlegenen Winkel führte, waren nämlich zwei Menschen ums Leben gekommen und die waren zuerst dran. Nicht nur weil sie zuerst gestorben waren, sondern weil sie Mordopfer waren und der Unbekannte am Strand allem Anschein nach ›nur‹ ein Unfallopfer. Als er endlich bei Cathcart an die Reihe kam, waren die beiden Beamten schon wieder in Augusta – zum Glück.
Ich war bei der Autopsie zugegen, weil ich damals der Einzige in der Gegend war, der einigermaßen anständige Fotos schießen konnte. Man wollte nämlich ein ›Schlaffoto‹ von dem Toten. Das ist ein spezieller Begriff, er bezeichnet nichts anderes als ein Foto von einer Leiche, das man noch in der Zeitung veröffentlichen kann. Dabei soll die Leiche aussehen, als würde sie schlafen.«
Stephanie schaute gleichzeitig neugierig und entsetzt drein.
»Funktioniert das denn?«
»Nein«, antwortete Vince. Dann fügte er hinzu: »Na ja … vielleicht für ein Kind. Oder wenn man nur einen kurzen Blick auf das Bild wirft und ein Auge zukneift. Das Foto musste vor der Obduktion gemacht werden, weil Cathcart meinte, er würde den Unterkiefer wegen der verstopften Kehle und so vielleicht zu weit ausrenken müssen.«
»Und ihr dachtet, es würde eher nach Schlafen aussehen, wenn er keinen Gürtel ums Kinn hat, der ihm den Mund zuhält?«, fragte Stephanie und musste wider Willen grinsen. Furchtbar, dass man so etwas lustig fand, aber sie konnte nicht anders; ein kleiner Teufel in ihrem Kopf entwarf eine makabre Karikatur nach der anderen.
»Ja, so ähnlich«, stimmte Vince zu und musste ebenfalls lächeln. Dave auch. Wenn sie wirklich pervers war, dann war sie wenigstens nicht die Einzige, Gott sei Dank. »Das würde ja aussehen wie eine Leiche mit Zahnschmerzen.«
Alle drei brachen in Gelächter aus. Stephanie dachte, dass ihr die beiden alten Vögel wirklich ans Herz gewachsen waren.
»Am besten, man lacht Freund Hein ins Gesicht«, sagte Vince und nahm sein Colaglas vom Geländer. Er trank einen Schluck und stellte es zurück. »Besonders in meinem Alter. Ich spüre den Sensenmann hinter jeder Tür, rieche seinen Atem auf dem Kopfkissen neben mir, wo früher meine Frauen lagen – Gott segne die beiden –, wenn ich das Licht ausmache.
Man muss ihm ins Gesicht lachen.
Wie auch immer, Steffi, ich machte jedenfalls meine Fotos – meine ›Schlaffotos‹ – und sie wurden ungefähr so, wie zu erwarten war. Auf dem besten sah der Kerl aus, als würde er gerade einen gewaltigen Rausch ausschlafen oder im Koma liegen. Das haben wir dann eine Woche später gedruckt. Auch die Daily News aus Bangor brachte es, außerdem die Zeitungen in Ellsworth und Portland. Hat natürlich nichts genützt, niemand meldete sich bei uns, der ihn gekannt haben wollte, und später fanden wir heraus, dass es dafür einen sehr einleuchtenden Grund gab.
In der Zwischenzeit fuhr Cathcart natürlich mit der Autopsie fort, und da die beiden Trottel aus Augusta wieder da waren, wo sie hingehörten, hatte er keine Einwände gegen meine Anwesenheit, solange ich nicht öffentlich davon sprach. Ich versicherte ihm, dass ich es niemandem erzählen würde, und hielt mich natürlich an mein Versprechen.
Er ging von oben nach unten vor. Zuerst kam natürlich das Stück Steak an die Reihe, das Doc Robinson schon erspäht hatte. ›Da haben wir auch schon die Todesursache‹, sagte Cathcart. Die zerebrale Embolie (die er viel später entdeckte, als ich längst auf der Fähre nach Moosie war) änderte seine Meinung nicht. Er meinte, wenn jemand da gewesen wäre, der den Heimlich-Griff beherrscht hätte – oder wenn er ihn selbst gekonnt hätte –, wäre der Mann nie auf dem Edelstahltisch mit den Abflussrinnen gelandet.
Dann kam Mageninhalt Nummer eins, das ist das, was ganz oben liegt, der Mitternachtsimbiss, der kaum verdaut war, als unser Mann starb. Es war nur das Steak. Vielleicht sechs oder sieben Bissen, gut durchgekaut. Cathcart schätzte es insgesamt auf hundertzwanzig Gramm.