Dann Mageninhalt Nummer zwei, damit meine ich das Abendessen. Das war alles schon ziemlich – nun, ich will hier nicht ins Detail gehen; sagen wir einfach, der Verdauungsprozess war schon so weit fortgeschritten, dass Dr. Cathcart ohne weitere Tests mit Sicherheit sagen konnte, dass der Mann irgendetwas Fischiges gegessen hatte, wahrscheinlich mit Salat und Pommes frites, so sechs bis sieben Stunden vor seinem Tod.
›Ich bin ja nicht Sherlock Holmes, Doc‹, warf ich ein, ›aber ich könnte das noch ein wenig präzisieren.‹
›Ach ja?‹, fragte er skeptisch.
›Ah jo‹, erwiderte ich. ›Ich denke, dass er entweder auf dem Festland bei Curly oder Jan’s Wharfside oder bei Yanko auf Moose-Look zu Abend gegessen hat.‹
›Warum gerade da, wenn es im Umkreis von dreißig Kilometern mindestens fünfzig Restaurants gibt, wo man Fisch essen kann, auch schon im April?‹, wollte er wissen. ›Warum nicht zum Beispiel im Grey Gull?‹
›Weil das Grey Gull sich nicht dazu herablassen würde, Fish and Chips zu servieren‹, erklärte ich, ›und das hat er gegessen.‹
Also, Steffi, bis dahin hatte ich mich gut gehalten, aber allmählich wurde mir übel. ›In den drei Läden bekommt man Fish and Chips‹, erklärte ich, ›und ich hab den dazugehörigen Essig gerochen, kaum dass Sie den Bauch aufgeschnitten hatten.‹ Dann rannte ich auf das kleine Klo und übergab mich.
Aber ich hatte Recht. Noch am selben Abend entwickelte ich meine Fotos und zeigte sie direkt am nächsten Tag bei den Restaurants herum, die Fish and Chips verkaufen. Bei Yanko hatte ihn keiner gesehen, aber die Bedienung von Jan’s Wharfside erkannte ihn sofort. Sie meinte, sie hätte ihm einen Tag, bevor er gefunden wurde, eine Portion Fish and Chips und dazu eine Cola oder Cola light verkauft, das wusste sie nicht mehr ganz genau. Er hätte sich damit an einen Tisch gesetzt und aufs Wasser geschaut. Ich fragte, ob er etwas gesagt hätte, und sie meinte, eigentlich nicht, nur ›bitte‹ und ›danke‹. Ich wollte wissen, ob sie mitbekommen hätte, wo er anschließend hingegangen sei – so gegen halb sechs –, aber sie verneinte.«
Vince sah Stephanie an. »Ich schätze, er lief hinunter zum Anleger, um die Fähre um sechs Uhr nach Moosie zu nehmen. Das wäre von der Zeit her ungefähr hingekommen.«
»Ah jo, der Meinung war ich auch immer«, meinte Dave. Stephanie setzte sich auf. Ihr war etwas eingefallen.
»Das war im April. Mitte April an der Küste von Maine, und der Typ hatte keine Jacke an, als man ihn fand. Trug er eine Jacke, als er bei Jan bedient wurde?«
Die beiden Alten grinsten sie an, als hätte sie gerade eine komplizierte Gleichung gelöst. Bloß wusste Stephanie, dass die Aufgabe der Journalisten weniger darin bestand, Probleme zu lösen, als zu beschreiben, was gelöst werden musste – auch auf der bescheidenen Ebene des Weekly Islander.
»Eine gute Frage«, sagte Vince.
»Eine herrliche Frage«, bestätigte Dave.
»Den Teil habe ich mir eigentlich aufgehoben«, sagte Vince, »aber da es ja gar keine richtige Geschichte ist, nützt es nichts, die guten Stellen aufzusparen … und wenn du Antworten suchst, mein Mädchen, der Zug ist leider abgefahren. Die Bedienung bei Jan wusste es nicht mehr mit Sicherheit und ansonsten konnte sich niemand an ihn erinnern. Wahrscheinlich können wir schon von Glück sagen: Wäre es Mitte Juli gewesen, wenn Tausende von Gästen in die Restaurants einfallen und Fish and Chips, Hummerbrötchen oder Eisbecher bestellen, dann hätte sie sich gar nicht an ihn erinnert, es sei denn, er hätte die Hose heruntergelassen und ihr seinen blanken Hintern gezeigt.«
»Vielleicht nicht mal dann«, sinnierte Stephanie.
»Stimmt. Jedenfalls konnte sie sich an ihn erinnern, wusste aber nicht mehr, ob er eine Jacke getragen hatte. Ich habe sie auch nicht zu stark unter Druck gesetzt, weil mir klar war, dass ihr dann vielleicht etwas einfallen würde, nur um mir einen Gefallen zu tun oder um mich loszuwerden. Sie sagte: ›Ich meine mich zu erinnern, dass er eine hellgrüne Jacke trug, Mr Teague, aber ich könnte mich auch irren.‹ Und vielleicht irrte sie sich tatsächlich, aber wer weiß … Ich neige zu der Annahme, dass sie Recht hatte. Dass er tatsächlich so eine Jacke trug.«
»Aber wo ist sie geblieben?«, fragte Stephanie. »Ist denn jemals so eine Jacke aufgetaucht?«
»Nein«, entgegnete Dave. »Vielleicht gab’s ja doch keine … aber was er ohne Jacke in einer rauen Aprilnacht draußen an der Küste wollte, das übersteigt absolut meine Vorstellungskraft.«
Stephanie schaute Vince an, und plötzlich hatte sie tausend
Fragen auf der Zunge, alle dringend, keine ausformuliert.
»Warum lächelst du, Kleine?«, fragte Vince.
»Weiß nicht.« Sie überlegte. »Doch, ich weiß es wohl. Ich habe so verdammt viele Fragen im Kopf, dass ich nicht weiß, welche ich zuerst stellen soll.«
Beide Männer mussten lachen. Dave zog sogar ein großes Taschentuch aus der Gesäßtasche und trocknete sich damit die Augen. »Du bist eine Marke!«, rief er aus.
»Alle Achtung! Ich sag dir was, Steffi: Warum machst du’s nicht so, als wärst du auf der Tupperwareparty vom Wohltätigkeitsbasar? Einfach die Augen schließen und zugreifen!«
»Gut«, sagte sie und folgte seinem Rat. »Was ist mit den Fingerabdrücken des Toten? Und seinen zahnärztlichen Unterlagen? Ich dachte, wenn man Tote identifizieren will, sind diese Sachen so gut wie unfehlbar.«
»Das denken die meisten, und wahrscheinlich stimmt es auch«, sagte Vince, »aber du darfst nicht vergessen, dass das
1980 war, Steffi.« Er lächelte noch immer, doch seine Augen blickten ernst. »Vor der digitalen Revolution und lange vor dem Internet, diesem wunderbaren Werkzeug, das junge Leute wie du inzwischen für selbstverständlich halten. 1980 konnte man Fingerabdrücke und zahnärztliche Unterlagen von Menschen, die bei der Polizei als ›unbekannte Personen‹ oder ›unbekannte Leiche‹ liefen, mit denen des Menschen vergleichen, den man für den Unbekannten hielt. Aber es hätte Jahre gedauert, sie mit den Daten aller gesuchten Verbrecher abzugleichen, die in den Dienststellen aktenkundig waren, beziehungsweise mit den Daten aller, die jedes Jahr in Amerika vermisst gemeldet werden. Selbst wenn man die Suche auf Männer zwischen dreißig und vierzig beschränkt hätte, wäre das nicht möglich gewesen, mein Mädchen.«
»Aber ich dachte, bei den Streitkräften gab es damals schon Daten in digitalisierter Form …«
»Das glaube ich nicht«, sagte Vince. »Und selbst wenn, glaube ich nicht, dass die Fingerabdrücke von Colorado Kid jemals dorthin geschickt wurden.«
»Jedenfalls erfolgte die Identifizierung weder durch Fingerabdrücke noch durch Röntgenbilder des Zahnarztes«, sagte Dave. Er verschränkte die Finger über der breiten Brust und schien sich im späten Sonnenschein zu rekeln. Die Sonne stand schon tief, wärmte aber noch immer. »Ich glaube, was wir jetzt machen, nennt man ›auf den Punkt kommen‹.«
»Wie hat man ihn denn dann identifiziert?«
»Nun kehren wir zurück zu Paul Devane«, sagte Vince. »Und ich komme gerne auf ihn zurück, weil es bei ihm, wie gesagt, eine Geschichte zu erzählen gibt, und das ist nun mal mein Metier. Mein Ding, hätte man früher gesagt. Devane hatte ein bisschen was von Horatio Alger – klein, aber genügsam: Ohne Fleiß kein Preis; jeder ist seines Glückes Schmied.«
»Arbeit ist aller Ärger Anfang«, ergänzte Dave.
»Wenn du meinst«, sagte Vince ungerührt. »Ah jo, sicher, wenn du meinst. Devane verschwand mit diesen beiden bescheuerten Bullen, O’Shanny und Morrison, sobald Cathcart ihnen einen vorläufigen Bericht über die Brandopfer aus dem Mietshaus vorgelegt hatte, denn ein Erstickungstod drüben auf Moose-Lookit Island war ihnen völlig schnuppe. Cathcart wühlte derweil in den Eingeweiden des Unbekannten herum, in Anwesenheit meiner Wenigkeit. Auf den Totenschein kam Tod durch Ersticken oder wie das bei Medizinern heißt. In den Zeitungen erschien mein ›Schlaffoto‹, das unsere viktorianischen Vorfahren viel zutreffender ein Totenporträt genannt hätten. Aber niemand meldete sich bei der Staatsanwaltschaft oder der State Police in Augusta und sagte, ja, der Vermisste ist mein Vater, mein Onkel, mein Bruder.