Das Beerdigungsinstitut von Tinnock lagerte ihn sechs Tage im Kühlhaus – das ist nicht vorgeschrieben, aber hat sich wie so vieles zu einer Tradition entwickelt. Das weiß jeder, der mit Toten zu tun hat, auch wenn keiner sagen kann, warum es so ist. Als die Frist ablief, als er immer noch keinen Namen hatte und niemand ihn haben wollte, machte Abe Carvey weiter und balsamierte ihn ein. Der Unbekannte kam in die firmeneigene Krypta des Instituts auf dem Friedhof Seaview …«
»Das ist ja ganz schön gruselig«, sagte Stephanie. Sie hatte den Toten vor Augen, doch aus unerfindlichem Grund nicht im Sarg (obwohl man ihn bestimmt zumindest in eine billige Kiste gesteckt hatte), sondern auf einer steinernen Bahre, über ihm eine Decke. Ein nicht abgeholtes Paket im Postamt der Toten.
»Äh jo, ein bisschen schon«, sagte Vince ungerührt.
»Soll ich weitererzählen?«
»Wenn du jetzt aufhörst, bringe ich dich um«, sagte sie.
Er nickte ohne zu lächeln, aber doch zufrieden mit ihr. Sie wusste nicht, warum, aber sie spürte es deutlich.
»Er blieb den Sommer und den halben Herbst in der Krypta. Als es November wurde, die Leiche immer noch keinen Namen hatte und niemand sie wollte, beschloss man, sie zu bestatten. Bevor der Boden zu hart wurde, verstehst du?«
»Ja«, sagte Stephanie leise. Sie verstand es sehr gut. Vielleicht war, ohne dass Stephanie den Finger darauf hätte legen können, wieder Telepathie zwischen den beiden Alten am Werk, denn Dave erzählte die Geschichte weiter (falls man es eine Geschichte nennen konnte), ohne dass der Chefredakteur des Islander ihm ein Zeichen gegeben hätte.
»Devane zog sein Praktikum mit O’Shanny und Morrison bis zum bitteren Ende durch«, sagte er. »Wahrscheinlich schenkte er den beiden am Ende der drei Monate oder des Vierteljahres sogar eine Krawatte; wie ich schon sagte, Stephanie, der junge Mann gab einfach nicht auf. Aber sobald er fertig war, reichte er seine Unterlagen bei der Uni ein – ich meine, er hätte von Georgetown gesprochen, aber nagel mich nicht drauf fest – und legte sich ins Zeug, absolvierte die Kurse, die er fürs Jurastudium brauchte. Abgesehen von zwei Dingen könnten wir Mr Paul Devane jetzt aus der Geschichte entlassen, die, wie Vince sagt, gar keine Geschichte ist, Höchstens dieser kleine Teil. Erstens lugte Devane irgendwann in die Tasche mit den Beweismitteln und begutachtete die Habseligkeiten des Toten. Zweitens wurde es ihm mit einem Mädchen ernst, und er ging ihre Eltern besuchen, das wollen Mädchen ja oft, wenn’s ernst wird. Der Vater dieses Mädchens hatte zumindest eine schlechte Angewohnheit, die damals weiter verbreitet war als heute: Er rauchte Zigaretten.«
Die Kamera in Stephanies Kopf, in dem ein fähiges Hirn arbeitete (wie beide Männer wussten), zeigte eine Packung Zigaretten, die in den Sand von Hammock Beach fiel, als der Tote vornüberkippte. Johnny Gravlin (inzwischen Bürgermeister von Moose-Look) hatte sie aufgehoben und dem Mann zurück in die Tasche gesteckt. Und dann fiel Stephanie etwas anderes ein, doch sah sie es nicht wie ein Kamerabild vor sich, sondern es durchfuhr sie wie ein Blitz. Sie zuckte zusammen, als sei sie gestochen worden. Dabei stieß sie mit dem Fuß gegen ihr Glas und kippte es um. Zischend floss Cola über die verwitterten Bretter der Veranda und tropfte auf die Felsen und das Unkraut darunter. Die beiden Alten bemerkten es nicht. Sie wussten, wenn jemand einen Geistesblitz hatte. Voller Interesse und Freude beobachteten sie ihre Praktikantin.
»Die Steuermarke!«, kreischte sie fast. »Auf jeder Zigarettenpackung ist die Steuermarke des Staates, wo sie gekauft wurde!«
Die beiden applaudierten, leise, aber aufrichtig.
10
Dave sagte: »jetzt erzähle ich dir, was der junge Mr Devane sah, als er verbotenerweise in die Tasche mit den Beweismitteln lugte, Steffi. Ich bin überzeugt, dass er den beiden Polizisten eins auswischen wollte. Er erwartete nicht, in so einer kümmerlichen Sammlung tatsächlich etwas Aussagekräftiges zu finden. Da war zum einen der Ehering des Fremden, ein schlichter Goldring ohne jede Gravur.«
»Der wurde ihm abgenommen?« Stephanie merkte, wie die beiden Alten sie ansahen, und ihr wurde klar, dass sie etwas Dummes gesagt hatte. Wenn der Mann identifiziert worden war, hatte seine Frau den Ring bekommen. Der Tote mochte sogar mit dem Ring am Finger bestattet worden sein, wenn seine Hinterbliebenen das so wünschten. Aber bis dahin war er ein Beweisstück und musste als solches behandelt werden.
»Ja«, sagte sie, »natürlich. Wie dumm von mir. Aber eins noch: Irgendwo muss es doch eine Frau gegeben haben. Eine Mrs Colorado Kid, oder?«
»Ja«, bestätigte Vince Teague ziemlich schwerfällig.
»Wir haben sie irgendwann gefunden.«
»Hatten sie Kinder?«, fragte Stephanie, weil sie fand, dass der Mann genau im richtigen Alter für eine ganze Schar von Sprösslingen war.
»Lass uns erst woanders weitermachen, wenn es dir recht ist«, sagte Dave.
»Kein Problem«, entgegnete Stephanie. »’tschuldigung.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, beruhigte er sie und grinste schwach. »Will nur nicht den Faden verlieren. Das passiert schnell, wenn man keinen … wie sagst du noch mal. Vincent?«
»Wenn man kein Seil zum Festhalten hat«, ergänzte Vince. Auch er lächelte, aber sein Blick war irgendwie abwesend. Stephanie fragte sich, ob der Gedanke an Colorado Kids Kinder diese Abwesenheit hervorgerufen hatte.
»Genau, hier gibt’s überhaupt kein Seil zum Festhalten«, bestätigte Dave. Er überlegte und zählte dann mehrere Stichpunkte an den Fingern ab, um zu beweisen, dass er absolut nichts vergessen hatte. »In der Tasche mit den Beweismitteln war der Ehering des Verstorbenen, siebzehn Dollar in Scheinen – ein Zehner, ein Fünfer, zwei Einer – sowie ein bisschen Kleingeld, insgesamt vielleicht ein Dollar. Außerdem, sagte Devane, sei eine Münze dabei gewesen, die nicht amerikanisch war. Seiner Meinung nach war die Schrift darauf russisch.«
»Russisch?«, staunte Stephanie.
»Das heißt kyrillisch«, murmelte Vince.
Dave fuhr fort: »Des Weiteren eine Rolle Pfefferminzbonbons und eine Packung Big-Red-Kaugummi mit nur noch einem Streifen. Ein Streichholzbriefchen mit einer Briefmarkenwerbung vorne darauf – die hast du bestimmt schon mal gesehen, bekommt man in jedem Lebensmittelgeschäft gratis –, und Devane meinte, er hätte einen rosa Abrieb auf der Zündfläche unten sehen können. Und dann die Packung Zigaretten, offen, es fehlten nur eine oder zwei. Devane glaubte, es fehlte nur eine, was der einzelne Zündstreifen auf dem Streichholzbriefchen bestätigen wurde, meinte er.«
»Aber keine Geldbörse«, bemerkte Stephanie.
»Nein.«
»Und keinerlei Papiere.«
»Nein.«
»Hat mal einer die Theorie aufgestellt, dass vielleicht jemand das letzte Stück Steak und die Brieftasche des Toten gestohlen
hat?«, fragte sie und musste kichern, noch ehe sie die Hand vor den Mund halten konnte.
»Steffi, das haben wir überlegt und wir sind auch alle anderen Möglichkeiten durchgegangen«, sagte Vince.
»Wir haben sogar erwogen, dass eines der Küstenlichter ihn am Hammock Beach abgesetzt hat.«
»Sechzehn Monate nachdem Johnny Gravlin und Nancy Arnault den Mann fanden«, fuhr Dave fort, »wurde Paul Devane eingeladen, ein Wochenende bei den Eltern seiner Freundin in Pennsylvania zu verbringen. Ich nehme an, dass Moose-Lookit Island, Hammock Beach und der Tote das Letzte waren, das er damals im Kopf hatte. Er sagte, er wollte mit seiner Freundin am Abend ausgehen, ins Kino oder so. Mutter und Vater waren in der Küche, machten den Abwasch, und Paul hatte angeboten zu helfen, war aber ins Wohnzimmer verbannt worden, weil er ja nicht wisse, wo alles hingehöre. Da saß er also, schaute sich an, was gerade im Fernsehen lief, und warf einen Blick auf den Fernsehsessel von Papa Bär, und siehe da: Auf Papa Bärs kleinem Beistelltisch, direkt neben Papa Bärs Fernsehzeitung und Papa Bärs Aschenbecher, lagen Papa Bärs Zigaretten.«