Mit glänzenden Augen beugte sich Stephanie vor, völlig fasziniert. »Und was habt ihr dann gemacht? Wie seid ihr vorgegangen?«
Dave wollte antworten, doch Vince legte die Hand auf die stämmige Schulter des geschäftsführenden Herausgebers und unterbrach ihn. »Was meinst du denn, wie wir vorgegangen sind, mein Mädchen?«
»Gibt’s wieder Unterricht?«, fragte Stephanie.
»Genau«, erwiderte er.
Und weil sie an seinen Augen und seinem Mund (mehr an Letzterem) ablesen konnte, dass er es völlig ernst meinte, dachte sie gründlich nach, ehe sie antwortete.
»Ihr … habt Abzüge von dem ›Schlaffoto‹ gemacht –«
»Ah jo, sicher.«
»Und dann … hm … dann habt ihr es mit einer entsprechenden Meldung an – wie viele Zeitungen in Colorado geschickt?«
Vince lächelte sie an, nickte und hielt ihr den ausgestreckten Daumen hin. »Achtundsiebzig, Miss McCann, und ich weiß nicht, wie es Dave erging, aber ich war erstaunt, wie wenig es kostete, so viele Kopien zu versenden, schon damals, 1981. Das belief sich summa summarum auf nicht mehr als hundert Mäuse, selbst mit Porto.«
»Was wir natürlich über die Bücher laufen ließen«, sagte Dave, der gleichzeitig Buchhalter des Islander war.
»Jeden Penny. War unser gutes Recht.«
»Wie viele Zeitungen brachten den Bericht?«
»Jede einzelne!«, rief Vince und schlug sich auf den schmalen Oberschenkel. »Ah jo! Selbst die Denver Post und die Rocky Mountain News! Denn damals hatte die Geschichte nur eine Unbekannte und ein wunderschönes Seil zum Festhalten, verstehst du?«
Stephanie nickte. Schlicht und schön. Das fand sie auch.
Vince nickte ebenfalls und strahlte. »Unbekannter Toter, möglicherweise aus Colorado, zweitausend Meilen entfernt auf einer Insel in Maine gefunden! Das Steak in seiner Kehle wurde nicht erwähnt, auch nicht die Jacke, die er sonst wo verloren haben konnte (oder vielleicht gar nicht angehabt hatte), auch war keine Rede von der russischen Münze in seiner Tasche. Es ging einfach nur um Colorado Kid, das ungelöste Rätsel. Das brachten alle Zeitungen, selbst die Gratisblättchen, die fast nur aus Gutscheinen bestehen.«
»Und zwei Tage, nachdem es Ende Oktober 1981 in Boulder in der Zeitung gestanden hatte«, erklärte Dave, »erhielt ich einen Anruf von einer Frau namens Aria Cogan. Sie wohnte in Nederland, in den Bergen in der Nähe von Boulder. Ihr Ehemann war im April des Vorjahres verschwunden und hatte sie und einen Sohn zurückgelassen, der zum damaligen Zeitpunkt sechs Monate alt gewesen war. Sie sagte, ihr Mann heiße James, und obwohl sie keine Ahnung hätte, was um alles in der Welt er auf einer Insel vor der Küste Maines getrieben haben mochte, habe das Foto in der Camera doch große Ähnlichkeit mit ihrem Ehemann. Sehr große sogar.« Er hielt inne. »Sie ahnte offenbar, dass es mehr war als eine Ähnlichkeit, denn sie konnte nicht weitersprechen und brach in Tränen aus.«
12
Stephanie bat Dave, den Vornamen von Mrs Cogan zu buchstabieren. Bei Dave Bowies starkem Akzent hatte sie nicht mehr als verschiedene A-Laute mit einem L in der Mitte verstanden.
Er tat ihr den Gefallen und sagte dann: »Sie hatte keine Fingerabdrücke von ihm – natürlich nicht, die arme Frau –, aber sie konnte mir den Namen seines Zahnarztes nennen und –«
»Moment, Moment, Moment«, rief Stephanie und hob die Hand wie ein Verkehrspolizist. »Dieser Cogan, womit verdiente der sein Geld?«
»Er war Zeichner in einer Werbeagentur in Denver«, antwortete Vince. »Ich habe mittlerweile einige seiner Arbeiten gesehen und muss sagen, dass er gar nicht schlecht war. Er hätte sich nicht landesweit durchgesetzt, aber wenn man für eine Postwurfsendung schnell ein Bild von einer Frau wollte, die eine Rolle Toilettenpapier hochhält, als hätte sie gerade die dickste Forelle gefangen, dann war Cogan der Richtige. Zweimal wöchentlich fuhr er nach Denver, dienstags und mittwochs, zu Besprechungen und Konferenzen. Ansonsten arbeitete er zu Hause.«
Stephanie richtete den Blick auf Dave. »Der Zahnarzt sprach mit Cathcart, dem Amtsarzt, stimmt’s?«
»Du triffst den Nagel auf den Kopf, Steffi. Cathcart hatte keine Röntgenbilder von den Zähnen des Toten, er war nicht darauf vorbereitet gewesen und hatte keinen Grund gesehen, die Leiche zum County Memorial rauszuschicken, wo die Röntgenaufnahmen hätten erstellt werden können, aber er hatte die Füllungen notiert, außerdem zwei Kronen. Es passte alles. Er schickte Kopien von den Fingerabdrücken des Toten an die Polizei in Nederland. Die forderte einen Techniker in Denver an, der zum Wohnhaus der Cogans ging und James Cogans Arbeitszimmer nach Fingerabdrücken absuchte. Mrs Cogan – Aria – sagte dem Techniker, er würde nichts finden, weil sie das gesamte Zimmer von vorne bis hinten geputzt hätte, als sie sich endlich eingestand, dass ihr Jim nicht zurückkommen würde, dass er sie entweder verlassen hätte, was sie kaum glauben konnte, oder dass ihm etwas Schreckliches zugestoßen sei, was ihr immer wahrscheinlicher schien.
Der Techniker sagte, wenn Cogan einen ›signifikanten Zeitraum‹ in seinem Büro verbracht hätte, würde er noch immer Abdrücke finden.« Dave hielt inne, seufzte, fuhr sich mit der Hand durch sein spärliches Haar. »Er hatte Recht, und wir erfuhren, dass der Unbekannte, auch Colorado Kid genannt, mit richtigem Namen James Cogan hieß, zweiundvierzig Jahre alt war, aus Nederland in Colorado stammte, mit Aria Cogan verheiratet und Vater von Michael Cogan war, der zum Zeitpunkt des Verschwindens seines Vater sechs Monate alt war und seinem zweiten Geburtstag entgegensah, als sein Vater identifiziert wurde.«
Vince stand auf und streckte sich, die Hände in den Rücken gestemmt. »Was haltet ihr davon reinzugehen, Leute? Langsam wird’s hier draußen kalt und es gibt noch ein bisschen was zu erzählen.«
13
Nacheinander gingen sie zur Toilette. Sie lag versteckt in einer Nische hinter der alten Offsetpresse, die nicht mehr in Gebrauch war (die Zeitung wurde inzwischen in Ellsworth gedruckt, schon seit 1998). Als Dave an der Reihe war, stellte Stephanie die Kaffeemaschine an. Wenn die Geschichte, die keine war, noch eine Stunde dauern würde (und sie hatte so das Gefühl), wären alle froh über eine Tasse Kaffee.
Als sie wieder zusammensaßen, schnupperte Dave in Richtung Küchenzeile und nickte wohlwollend. »Ich mag Frauen, für die Hausarbeit keine Sklavenarbeit ist, bloß weil sie ihr eigenes Geld verdienen.«
»Geht mir bei Männern genauso«, gab Stephanie zurück, und als er lachte und nickte (das war ein guter Spruch gewesen – der zweite an diesem Nachmittag, ein Rekord), wies sie auf die gewaltige alte Presse. »Das Ding sieht für mich nach Sklavenarbeit aus«, sagte sie.
»Sieht schlimmer aus, als es war«, entgegnete Vince, »die Presse davor war hingegen wirklich furchtbar. Wenn man nicht aufpasste, war der Arm ab, da konnte man sich noch so in Acht nehmen. Aber wo waren wir stehen geblieben?«