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»Bei der Frau, die gerade erfahren hatte, dass sie Witwe war«, sagte Stephanie. »Vermutlich hat sie die Leiche abgeholt, oder?«

»Ja«, bestätigte Dave.

»Hat einer von euch beiden Mrs Cogan vom Flughafen in Bangor abgeholt?«

»Was meinst du, mein Mädchen?«

Stephanie brauchte nicht lange nachzudenken. Ende Oktober oder Anfang November 1981 war Colorado Kid für den Bundesstaat Maine absolut kalter Kaffee … und als Erstickter hatte er sowieso nicht oberste Priorität. Eigentlich war er ja nur eine unbekannte Leiche.

»Na klar habt ihr sie abgeholt. Ihr beiden wart praktisch die einzigen Leute in Maine, die sie kannte.«

Diese Feststellung hatte bei Stephanie die eigentümliche Erkenntnis zur Folge, dass Aria Cogan ein Mensch aus Fleisch und Blut war (wahrscheinlich bis zum heutigen Tage) und keine Figur in einem Krimi von Agatha Christie oder in einer Folge von Mord ist ihr Hobby.

»Ich bin hingefahren«, sagte Vince leise. Er beugte sich vor und betrachtete seine Hände, knorrig wie Treibholz, die er unter den Knien verschränkt hatte.

»Sie war anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Ich hatte mir ein falsches Bild von ihr gemacht. Ich hätte es besser wissen müssen, ich bin schließlich seit fünfundsechzig Jahren im Zeitungsgeschäft – so lange wie mein alter Freund und Kupferstecher hier auf der Erde weilt, und der ist auch nicht mehr der junge Hüpfer, für den er sich hält. In der Zeit habe ich so manche Leiche gesehen. Meistens vergisst man ganz schnell diese romantische Vorstellung nach dem Motto ›Sah eine Maid ich sanft dort ruhn‹. Leichen sind was Grässliches. Manchmal sind sie gar nicht mehr als Menschen zu erkennen. Aber von Colorado Kid konnte man das nicht behaupten. Er sah noch so gut aus, dass Mr Poe fast eins von seinen romantischen Gedichten über ihn hätte schreiben können. Natürlich hatte ich ihn vor der Autopsie fotografiert, das darfst du nicht vergessen. Wenn man das Bild etwas länger ansah, merkte man natürlich, dass er mausetot war (fand ich jedenfalls), aber trotzdem hatte er etwas Schönes an sich mit seinen aschfahlen Wangen, den blassen Lippen und diesem lila Schatten auf den Augenlidern.«

»Brrr«, machte Stephanie, aber sie verstand schon, was Vince sagen wollte, und tatsächlich kam ihr ein Gedicht von Poe in den Sinn. Das über die verlorne Leonor.

»Ah jo, hört sich nach der großen Liebe an«, sagte Dave und stand auf, um sich Kaffee einzuschenken.

14

Vince Teague goss, wie es Stephanie erschien, fast eine halbe Tüte Kaffeesahne in seine Tasse, dann fuhr er wehmütig lächelnd mit seinem Bericht fort.

»Ich will eigentlich nur sagen, dass ich irgendwie mit einer blassen, dunkelhaarigen Schönheit gerechnet hatte. Stattdessen kam ein pummeliger Rotschopf mit tausend Sommersprossen. An ihrer Trauer und ihrem Kummer bestand natürlich kein Zweifel, aber sie gehörte wohl eher zu der Sorte Mensch, die alles in sich reinstopft, wenn ihr was Sorgen bereitet, statt gar nichts mehr zu essen. Ihre Familie war aus Omaha oder Des Moines gekommen und passte auf das Kind auf, und ich werde nie vergessen, wie verloren und einsam sie aussah, als sie von der Fluggastbrücke kam. Sie trug ihre Handtasche nicht an der Seite, sondern hielt sie vor die Brust gedrückt. Sie sah so anders aus, als ich sie mir vorgestellt hatte, sie hatte so gar nichts von verlorner Leonor …«

Stephanie zuckte zusammen. Jetzt funktioniert die Telepathie auch bei mir, dachte sie.

»… aber ich wusste sofort, wer sie war. Ich winkte ihr zu, sie kam zu mir und fragte: ›Mr Teague?‹ Und als ich bejahte, nannte sie ihren Namen, setzte die Tasche ab, umarmte mich und sagte: ›Danke, dass Sie mich abholen kommen. Danke für alles. Ich kann einfach nicht glauben, dass er es sein soll, aber ich brauche eigentlich nur auf das Foto zu sehen und weiß Bescheid.‹ Die Strecke zum Flughafen ist ganz schön lang – das weiß niemand besser als du, Steffi –, daher hatten wir viel Zeit zum Reden. Zuerst fragte sie mich, ob ich irgendeine Ahnung hätte, was Jim an der Küste von Maine gewollt hätte. Ich verneinte. Dann erkundigte sie sich, ob er sich am Mittwochabend in irgendeinem Motel eingemietet hätte –« Vince hielt inne und sah Dave an. »Stimmt doch, oder? Mittwochabend?«

Dave nickte. »Sie muss sich nach dem Mittwochabend erkundigt haben, weil Johnny und Nancy ihn am Donnerstagmorgen fanden. Am 24. April 1980.«

»Dass du das noch weißt!«, staunte Stephanie.

Dave zuckte mit den Schultern. »So was behalte ich immer«, erklärte er, »aber wenn ich nach der Arbeit Brot besorgen soll, vergesse ich es und muss noch mal im Regen raus.«

Stephanie wandte sich wieder an Vince: »Er hat sich am Tag davor doch bestimmt nicht in einem Motel eingemietet, sonst hättet ihr ihn nicht die ganze Zeit ›den Unbekannten‹ genannt. Dann hättet ihr einen Namen gehabt, vielleicht nicht den richtigen, aber zumindest den, mit dem er sich im Motel eingetragen hat.«

Vince nickte, noch ehe sie zu Ende gesprochen hatte.

»Dave und ich haben nach dem Tod von Colorado Kid drei oder vier Wochen lang – selbstverständlich in unserer Freizeit – sämtliche Motels im Umkreis von Moose-Lookit Island abgeklappert. In der Hauptsaison wäre das so gut wie unmöglich gewesen, dann kann man sich im Umkreis von einer halben Tagesreise von der Fähre in Tinnock in circa vierhundert Motels, Gasthäuser, Ferienhäuser, Fremdenzimmer und was nicht sonst noch alles einmieten. Aber im April war das noch zu bewerkstelligen, weil siebzig Prozent der Häuser zwischen Thanksgiving und dem Memorial Day Ende Mai geschlossen haben. Wir haben das Foto überall vorgelegt, Steffi.«

»Ohne Erfolg?«

»Ohne jeden Erfolg«, erwiderte Dave.

Sie fragte Vince: »Wie reagierte sie, als du ihr das sagtest?«

»Gar nicht. Sie war baff.« Er überlegte. »Weinte ein bisschen.«

»Natürlich, die Arme«, sagte Dave.

»Und was hast du gemacht?«, fragte Stephanie, immer noch auf Vince konzentriert.

»Meine Arbeit«, erwiderte er, ohne zu zögern.

»Weil du derjenige bist, der immer Bescheid wissen muss«, sagte sie.

Er hob die buschigen Augenbrauen. »Meinst du?«

»Ja«, sagte sie. »Meine ich.« Und sah Dave an, wartete auf seine Bestätigung.

»Ich glaube, da hat sie dich erwischt, Junge«, stimmte Dave zu.

»Die Frage lautet: Ist das auch dein Ziel, Steffi?«, gab Vince mit schiefem Lächeln zurück. »Ich glaube, ja.«

»Klar«, sagte sie, fast automatisch. Sie wusste es schon seit Wochen, obwohl sie jeden, der sie vor ihrem Praktikum beim Islander gefragt hätte, ob sie sich für ein Leben an so einem abgelegenen Ort entscheiden wollte, ausgelacht hätte. Die Stephanie McCann, die sich beinahe für New Jersey statt für Moose-Lookit vor der Küste Maines entschieden hätte, kam ihr nun wie eine Fremde vor. Eine Landpflanze. »Was hat sie dir erzählt? Was wusste sie?«

»Gerade so viel, um die sonderbare Geschichte noch seltsamer zu machen«, antwortete Vince.

»Erzähl!«

»Gut, aber ich warne dich: Ab hier gibt es kein Seil zum Festhalten mehr!«

Stephanie zögerte nicht. »Erzähl trotzdem!«

15

»Am Mittwoch, dem 23. April 1980, fuhr Jim Cogan zur Arbeit in der Werbeagentur Mountain Outlook in Denver, so wie er es jeden Mittwoch tat«, begann Vince.

»Das sagte sie mir. Er hatte eine Mappe mit Entwürfen für Sunset Chevrolet dabei, einen der großen örtlichen Autohändler, die bei Mountain Outlook jedes Jahr tonnenweise Werbebroschüren in Auftrag geben – also ein sehr einträglicher Kunde. Cogan war seit drei Jahren einer der vier Zeichner, die für Sunset Chevrolet arbeiteten, sagte sie, und sie war überzeugt, dass die Firma mit Jims Arbeit zufrieden war. Das beruhte offenbar auf Gegenseitigkeit, denn auch Jim war gerne für den Autohändler tätig. Nach Aria Cogans Aussage waren seine Spezialität ›Liebe-Güte-Frauen‹, wie sie sie nannte. Als ich fragte, was das sei, grinste sie und sagte, das seien hübsche Mädchen mit aufgerissenen Augen und offenem Mund, die meistens die Hände auf die Wangen legten. Die Geste besage so viel wie: ›Du liebe Güte, das ist ja ein tolles Angebot bei Sunset Chevrolet!‹«