»Hallo, Vince, hallo, Dave«, sagte sie und begnügte sich mit einem Nicken in Richtung des hübschen Mädchens, dessen Namen sie nicht kannte. »Euer Freund ist ja schon gegangen. Musste er zur Fähre?«
»Jawohl«, sagte Dave. »Ihm ist plötzlich eingefallen, dass er noch zurück nach Boston muss.«
»Ah jo? Seid ihr fertig?«
»Ja, aber warte noch ein bisschen mit dem Abräumen«, sagte Vince. »Wenn du Zeit hast, kannst du uns die Rechnung bringen, Helen. Wie geht’s den Kindern?«
Helen Hafner verzog das Gesicht. »Jude ist letzte Woche aus dem Baumhaus gefallen und hat sich den Arm gebrochen! Wie der geschrien hat! Ich hab mich zu Tode erschrocken!«
Die beiden Alten sahen sich an und mussten lachen. Schnell rissen sie sich wieder zusammen und machten zerknirschte Gesichter. Vince entschuldigte sich bei Helen, aber sie war dennoch erzürnt.
»Männer haben gut lachen«, sagte sie mit müdem, sarkastischem Lächeln zu Stephanie. »Als kleine Jungs sind sie selbst aus dem Baumhaus gefallen und haben sich den Arm gebrochen. Sie sind alle mal kleine wilde Racker gewesen. Aber dass ihre Mutter mitten in der Nacht aufgestanden ist und ihnen Schmerztabletten gegeben hat, das wissen sie natürlich nicht mehr. Ich bringe euch die Rechnung.« In ihren abgelaufenen Turnschuhen schlurfte sie davon.
»Sie hat ein gutes Herz«, sagte Dave. Er besaß genug Anstand, um leicht beschämt dreinzublicken.
»Ja, das stimmt«, bestätigte Vince, »und wenn wir von ihr einen Nasenstüber bekommen haben, dann haben wir ihn auch verdient. Egal. Mit dem Essen läuft das jetzt so, Steffi: Ich weiß nicht, was drei Hummerbrötchen, einmal Hummer mit Muscheln und vier Eistees in Boston kosten, aber der Journalist hat scheinbar vergessen, dass wir hier oben sozusagen an der Bezugsquelle sitzen, wie der Ökonom sich ausdrücken würde. Deshalb hat er hundert Dollar auf den Tisch gelegt. Wenn unsere Rechnung höher als fünfundfünfzig Dollar ist, fress ich einen Besen. Kannst du mir noch folgen?«
»Natürlich«, sagte Stephanie.
»Also, für den Typ vom Globe wird das so laufen: Auf der Rückfahrt schreibt er ›Mittagessen, Grey Gull, Moose-Lookit Island‹ und ›Serie: Ungelöste Rätsel Neuenglands‹ in seinen kleinen Spesenblock. Wenn er ehrlich ist, notiert er hundert Dollar, aber wenn er auch nur die geringste kriminelle Energie besitzt, schreibt er hundertzwanzig auf und geht mit seiner Freundin für die restlichen zwanzig ins Kino. Verstehst du?«
»Ja«, entgegnete Stephanie. Mit vorwurfsvollem Blick trank sie ihren Eistee aus. »Das finde ich ganz schön zynisch.«
»Nein, wenn ich zynisch wäre, hätte ich hundertdreißig gesagt«, gab Vince zurück. Dave musste lachen. »Auf jeden Fall hat er hundert hier gelassen, das sind mindestens fünfunddreißig Dollar zu viel, selbst wenn man zwanzig Prozent Trinkgeld draufrechnet. Deshalb habe ich das Geld an mich genommen. Wenn Helen die Rechnung bringt, unterschreibe ich und lasse sie an den Islander schicken.«
»Du gibst ihr hoffentlich mehr als zwanzig Prozent Trinkgeld«, sagte Stephanie, »in Anbetracht ihrer Situation zu Hause.«
»Nein, da irrst du dich«, sagte Vince.
»Aha. Und wieso?«
Geduldig sah er sie an. »Was glaubst du wohl? Dass ich ein geiziger Opa bin? Ein knickriger Yankee?«
»Nein, das glaube ich genauso wenig, wie dass Schwarze faul sind oder Franzosen den ganzen Tag an Sex denken.«
»Dann setz mal deine kleinen grauen Zellen in Bewegung! Gott hat dir genug gegeben.«
Stephanie strengte sich an. Neugierig betrachteten die beiden Männer sie.
»Helen will keine Almosen«, sagte sie schließlich. Vince und Dave schauten sich amüsiert an.
»Was ist?«, fragte Stephanie.
»Ein bisschen nah an faulen Schwarzen und sexbesessenen Franzosen, was?«, sagte Dave mit besonders starkem Akzent, jeden Vokal wie Kaugummi in die Länge ziehend. »Die stolze Yankeefrau, die keine Almosen nimmt.«
Stephanie hatte das Gefühl, im Sumpf der Pauschalvorstellungen zu versinken. »Ihr denkt also, dass sie es nehmen würde. Für ihre Kinder, vielleicht auch für sich selbst.«
»Der Mann, der uns das Mittagessen ausgegeben hat, kommt von weit her«, sagte Vince. »Für Helen Hafner haben Leute von weit her so viel Geld, dass sie sie damit sozusagen zusch … ähm, eindecken können.«
Erheitert über diese sprachliche Rücksichtnahme, sah sich Stephanie auf der Terrasse um und blickte dann durch die Glasscheibe in den Saal. Ihr fiel etwas auf: Viele, ja fast sämtliche Gäste draußen auf der Terrasse waren Ortsansässige, die Kellnerinnen ebenfalls. Drinnen saßen die Urlauber, die Sommerfrischler. Sie wurden von jüngeren Kellnerinnen bedient, hübscheren Mädchen vom Festland. Aushilfen. Da verstand Stephanie alles. Es war falsch gewesen, die Frage unter soziologischem Aspekt zu betrachten – es war viel einfacher.
»Die Kellnerinnen im Grey Gull teilen sich das Trinkgeld, stimmt’s?«, fragte sie. »Deshalb!«
Vince zeigte mit dem Finger auf sie. »Bingo!«
»Und was wollt ihr jetzt machen?«
»Es läuft wie folgt«, erklärte er. »Ich unterschreibe die Rechnung mit fünfzehn Prozent Trinkgeld. Dann stecke ich Helen vierzig Dollar vom Globe-Typen in die Tasche. Sie bekommt den ganzen Batzen, der Zeitung tut’s nicht weh, und was Onkel Sam nicht weiß, macht ihn nicht heiß.«
»So werden in Amerika Geschäfte gemacht«, sagte Dave feierlich.
»Und weißt du, was ich gut finde?«, fragte Vince Teague und hielt das Gesicht in die Sonne. Er kniff die Augen wegen des grellen Lichts zusammen, seine Haut legte sich in unzählige Falten. Sein wahres Alter war noch immer nicht zu erraten, aber wie achtzig sah er jetzt immerhin schon aus.
»Nein. Was denn?«, fragte Stephanie belustigt.
»Ich finde es gut, dass das Geld im Umlauf bleibt, wie Wäsche im Trockner. Das beobachte ich gerne. Und diesmal landet das Geld, wenn die Maschine endlich stehen bleibt, hier auf Moosie, wo die Leute es wirklich brauchen. Am tollsten ist allerdings, dass der Typ aus Boston zwar unser Essen bezahlt hat, aber nichts in der Hand hatte, als er zur Fähre ging.«
»Als er zur Fähre rannte«, verbesserte ihn Dave. »Er musste sich doch beeilen! Ich hab an dieses Gedicht von Edna St. Vincent Millay gedacht: ›Wir waren so müde, wir waren so froh, wir fuhren die ganze Nacht auf dem Boot.‹ Oder so ähnlich.«
»Na, froh sah er mir nicht gerade aus. Aber wenn er im nächsten Ort eintrifft, ist er bestimmt richtig müde«, meinte Vince. »Ich glaube, er hat von Maddewaska gesprochen. Vielleicht findet er ja da ein ungelöstes Rätsel. Zum Beispiel, warum da überhaupt freiwillig Menschen leben. Pass jetzt auf, Dave!«
Stephanie war überzeugt, dass zwischen den beiden Männern eine schlichte, aber gut funktionierende Telepathie herrschte. Seit ihrer Ankunft auf Moose-Lookit Island vor drei Monaten hatte sie mehrere Beweise dafür erlebt. Dies war wieder eines. Die Kellnerin kam näher, die Rechnung in der Hand. Dave hatte ihr den Rücken zugewandt, Vince sah ihr entgegen. Der Jüngere schien dennoch genau zu wissen, was der Redakteur des Islander von ihm erwartete: Dave griff in die Gesäßtasche, holte seine Börse heraus, zog zwei Scheine hervor, faltete sie und schob sie über den Tisch. Kurz darauf stand Helen vor ihnen. Mit seiner knotigen Hand nahm Vince die Rechnung entgegen, mit der anderen drückte er die Geldscheine in die Tasche von Helens Uniform.
»Danke, meine Liebe«, sagte er.
»Wollt ihr wirklich keinen Nachtisch?«, fragte sie. »Es gibt Macs Schokoladenkuchen mit Kirschen. Steht nicht auf der Karte, aber es ist noch was da.«
»Für mich nicht. Steffi, du?«
Sie schüttelte den Kopf. Mit gewissem Bedauern schloss sich Dave Bowie ihr an.
Helen schenkte (falls das das richtige Wort war) Vince Teague einen abschätzenden Blick: »Du könntest etwas mehr auf den Rippen vertragen, Vince.«