»Und wenn Cogan bar bezahlt hat«, fügte Vince hinzu, »gibt es möglicherweise überhaupt keine Unterlagen darüber.«
»Aber es gibt doch bestimmt alle möglichen Behörden –«
»Allerdings«, bestätigte Dave. »Mehr als man sich vorstellen kann, angefangen bei der Flugaufsichtsbehörde bis hin zum Finanzamt. Würde mich nicht wundern, wenn die Nachwuchsorganisation der amerikanischen Farmer auch irgendwie dazugehörte. Aber bei Barzahlung gibt’s nicht viele Unterlagen. Denk an Helen Hafner!«
Natürlich konnte sich Stephanie an die Kellnerin aus dem Grey Gull erinnern. Deren Sohn kürzlich aus dem Baumhaus gefallen war und sich den Arm gebrochen hatte. Sie bekommt den ganzen Batzen, hatte Vince gesagt, bevor er Helen Hafner das Geld zusteckte. Was Onkel Sam nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Und Dave hatte hinzugefügt: So werden in Amerika Geschäfte gemacht.
Stephanie nahm an, dass sie Recht hatten, aber im vorliegenden Fall bereitete ihnen diese Art, Geschäfte zu machen, erhebliche Probleme.
»Ihr wisst es also nicht«, schloss sie. »Ihr habt euer Bestes getan, aber ihr habt es nicht herausbekommen.«
Vince schaute erst überrascht, dann erheitert drein.
»Ob man sein Bestes getan hat, Steffi, kann man, glaube ich, nie mit Sicherheit sagen: Ich bin sogar der Ansicht, dass die meisten dazu verurteilt, ja verflucht sind zu glauben, sie hätten es noch ein bisschen besser machen können, selbst wenn sie eigentlich mit dem Ergebnis zufrieden sind. Aber du irrst dich – ich habe es herausbekommen. Er hat sich ein Flugzeug in Stapleton gechartert. Auf jeden Fall.«
»Aber du hast gesagt –«
Er beugte sich noch weiter über seine gefalteten Hände und fixierte sie mit seinem Blick. »Hör gut zu und lass dir etwas gesagt sein, mein Mädchen. Es ist lange her, dass ich Sherlock Holmes gelesen habe, weshalb ich nicht präzise zitieren kann, aber irgendwann sagt der große Detektiv zu Dr. Watson so etwas wie: ›Eliminiert man das Unmögliche, muss das, was übrig bleibt, wie unwahrscheinlich es auch ist, die Wahrheit sein.‹ Also, wir wissen, dass Colorado Kid bis Viertel oder zwanzig nach zehn am Mittwochmorgen in seinem Büro in Denver war. Und wir können auch davon ausgehen, dass er um halb sechs bei Jan’s Wharfside war. Heb noch mal die Finger hoch, wie du es eben getan hast, Stephanie.«
Sie tat wie ihr geheißen, den linken Zeigefinger für Colorado Kid in Denver, den rechten für James Cogan in Maine. Vince nahm die Hände auseinander und berührte mit seinem Zeigefinger den ihrer rechten Hand. Alter und Jugend trafen sich quasi mitten in der Luft.
»Dieser Finger darf aber nicht halb sechs sein«, sagte er. »Wir müssen der Bedienung nicht unbedingt glauben. Sie hat sich zwar nicht die Hacken abgelaufen wie im Juli, aber sie hatte bestimmt genug zu tun, es war schließlich Abendessenszeit und so.«
Stephanie nickte. In diesem Teil der Welt aß man früh zu Abend. Das Mittagessen nahm man mittags aus dem Henkelmann zu sich, oft draußen im Hummerboot.
»Dieser Finger ist jetzt mal sechs Uhr«, sagte er. »Die letzte Fähre.«
Stephanie nickte abermals. »Die muss er genommen haben, oder?«
»Ja, es sei denn, er ist geschwommen«, warf Dave ein.
»Oder hat ein Boot gemietet«, ergänzte Stephanie.
»Wir haben uns umgehört«, erklärte Dave. »Wichtiger noch: Wir haben Gard Edwick gefragt, der im Frühjahr 1980 der Fährmann war.«
Hat Cogan ihm Tee gebracht?, fragte Stephanie sich plötzlich. Denn wenn man mit der Fähre fahren will, muss man dem Steuermann Tee mitbringen. Hast du selbst gesagt, Dave. Oder sind der Fährmann und der Steuermann zwei verschiedene Personen?
»Steffi?« Vince klang besorgt. »Alles in Ordnung, mein Mädchen?«
»Sicher, warum?«
»Weiß nicht, du sahst gerade aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Hab ich auch. Ist ja eine seltsame Geschichte, oder?«
Dann fügte sie hinzu: »Nur dass es gar keine Geschichte ist, da hattet ihr Recht, und wenn ich gerade ein komisches Gesicht gemacht habe, liegt es wahrscheinlich daran. Es ist, als würde man mit dem Fahrrad auf einem Drahtseil fahren wollen, das gar nicht existiert.«
Stephanie zögerte, dann entschied sie sich, weiterzusprechen, auch wenn sie sich komplett zum Narren machte.
»Konnte sich Mr Edwick an Cogan erinnern, weil der ihm etwas mitgebracht hatte? Weil er Tee für den Steuermann mitbrachte?«
Eine Weile sagte keiner der Männer etwas, sie betrachteten Stephanie nur mit ihren unergründlichen Augen – so sonderbar lebendig und sympathisch jungenhaft in ihren alten Gesichtern –, und Stephanie hatte Angst, jeden Moment loszulachen oder – zuweinen, irgendetwas zu tun, bloß um die Spannung und wachsende Gewissheit zu vertreiben, dass sie sich völlig blamiert hatte.
Vince sagte: »Es war eine kalte Überfahrt. Ein Mann kam zum Ruderhaus und reichte Gard einen Pappbecher mit Kaffee. Sie wechselten nur wenige Sätze. Es war ja April, zu der Zeit wurde es schon langsam dunkel. Der Mann sagte: ›Ruhige See‹, und Gard antwortete: ›Ah jo.‹ Dann sagte der Mann: ›Das hat sich schon lange angekündigt‹, vielleicht aber auch ›Ich hab mich schon lange angekündigt‹. Gard meinte, es hätte sogar heißen können ›Haas hat sich schon lange angekündigt‹. Es gibt den Namen; zwar nicht im Telefonbuch von Tinnock, aber in mehreren anderen habe ich ihn gefunden.«
»Trug Cogan die grüne Jacke oder den Mantel?«
»Steffi«, sagte Vince. »Gard konnte sich nicht nur nicht erinnern, ob der Mann einen Mantel trug, er hätte vor Gericht nicht mal beschwören können, ob der Mann zu Fuß oder zu Pferde kam. Erstens wurde es schon dunkel; zweitens waren es lediglich eine freundliche Geste und ein paar Sätze, an die er sich anderthalb Jahre später erinnerte; drittens … naja, der alte Gard, weißt du …« Vince tat, als halte er sich eine Flasche an den Mund.
»Wir wollen nicht schlecht über die Toten reden, aber der Mann soff wie ein Loch«, sagte Dave. »1985 verlor er die Stelle als Fährmann. Die Stadt gab ihm den Schneepflug, damit seine Familie nicht hungern musste. Er hatte fünf Kinder und seine Frau litt an MS. Aber irgendwann räumte er im Februar stinkbesoffen die Main Street und fuhr den Pflug an einem Strommasten zu Schrott, danach gab es eine verdammte Woche lang keinen Strom mehr, entschuldige meine Ausdrucksweise. Er verlor die Stelle und lebte von der Wohlfahrt. Wundere ich mich also, dass er sich an nichts erinnern konnte? Nein, überhaupt nicht. Aber aufgrund der Fakten, die er noch wusste, bin ich überzeugt, dass Colorado Kid mit der letzten Fähre vom Festland rüberkam und dass er dem Steuermann tatsächlich Tee brachte, beziehungsweise einen akzeptablen Ersatz. Klasse, dass du das noch wusstest, Steffi!« Er tätschelte ihr die Hand. Sie lächelte ihn an und hatte das Gefühl, ihr würde schwindelig.
»Wie du schon gesagt hast«, nahm Vince den Faden wieder auf, »muss der Zeitunterschied von zwei Stunden berücksichtigt werden.« Er schob ihren linken Zeigefinger näher an den rechten heran. »Um Viertel nach zwölf Ostküstenzeit verlässt Cogan das Büro. Sobald sich die Aufzugtüren zum Eingangsbereich des Gebäudes öffnen, legt er seine lässige, routinierte Art ab. Augenblicklich schaltet er um. Als säße ihm der Teufel im Nacken, rast er nach draußen, wo das schnelle Auto mit einem ebenso schnellen Fahrer auf ihn wartet.
Eine halbe Stunde später ist er bei einer FBO in Stapleton und fünf Minuten später steigt er in ein Privatflugzeug. Er hat nichts dem Zufall überlassen. Kann er gar nicht. Viele Leute fliegen regelmäßig privat hin und her, bleiben dann aber ein, zwei Wochen an einem Ort. Die Flugzeuge, die die Passagiere hinbringen, können in diesen zwei Wochen auch von anderen gemietet werden. Unser Mann wird sich für eines dieser Flugzeuge entschieden und mit großer Wahrscheinlichkeit im Voraus bar bezahlt haben. Um Richtung Osten zu fliegen.«