»Sie ist jetzt bereit, über ihr großes Trauma zu sprechen, weil sie den Hydranten umgefahren und ›sich zum Affen gemacht hat‹. Das waren ihre Worte. Ich glaube allerdings nicht, dass sie in meiner atemberaubenden Schilderung des Zwischenfalls auftauchen werden. Nun, ich glaube, ich muss gleich mal rüber; mir die Geschichte anhören, solange Ellen sich noch klar erinnern kann und bevor es Abendessen gibt. Ich kann von Glück sagen, dass sie und ihre Schwester immer so spät essen. Sonst habe ich meistens Pech.«
»Und ich muss mich unbedingt um die Rechnungen kümmern«, verkündete Dave. »Ich habe das Gefühl, dass da jetzt zehn mehr liegen als eben, bevor wir zum Grey Gull aufgebrochen sind. Ich schwöre es: Wenn man sie allein auf dem Schreibtisch liegen lässt, vermehren sie sich wie die Karnickel.«
Voller Entsetzen starrte Stephanie die beiden an. »Ihr könnt doch jetzt nicht aufhören! Ihr könnt mich doch nicht so sitzen lassen!«
»Wir haben keine Wahl«, gab Vince freundlich zurück. »Wir sitzen ja auch fest, Steffi, und das seit fünfundzwanzig Jahren. In dieser Geschichte gibt es keine verlassene Gemeindesekretärin.«
»Und keine Lichter von Ellsworth, die von den Wolken reflektiert werden«, fügte Dave hinzu. »Nicht mal einen Teodore Riponeaux, einen armen alten Seemann, der wegen eines mutmaßlichen Schatzes umgebracht und dann in seinem eigenen Blut auf dem Vorderdeck liegen gelassen wird, nachdem die anderen Matrosen über Bord geworfen wurden – und warum? Als Warnung an andere Möchtegern-Schatzjäger, du lieber Himmel! Na, das ist mal ein Seil zum Festhalten, was, mein Mädchen?«
Dave grinste, doch dann wurde er ernster. »Das alles fehlt im Fall von Colorado Kid; es gibt keine Schnur, auf die sich die Perlen fädeln ließen, verstehst du? Ist ja auch kein Sherlock Holmes oder Ellery Queen da, um sie aufzureihen. Nur zwei alte Zeitungshasen, die jede Woche rund hundert Meldungen bringen müssen. Keine davon schlägt große Wellen, verglichen mit dem Boston Globe, aber trotzdem wollen die Leute auf der Insel sie lesen. Wo wir gerade dabei sind: Wolltest du nicht mit Sam Gernerd reden? Damit du alles über seine berühmte Heuwagenfahrt mit anschließendem Picknick erfährst?«
»Wollte ich … ich bin … natürlich will ich das! Könnt ihr das glauben? Dass ich tatsächlich mit ihm über dieses blöde Fest reden will?«
Vince Teague lachte laut los, Dave fiel ein.
»Ah jo«, sagte Vince, als er sich wieder beruhigt hatte.
»Keine Ahnung, was dein Lehrer an der Journalistenschule davon halten würde, Steffi, wahrscheinlich würde er weinend zusammenbrechen, aber ich verstehe das.« Er schaute Dave an.
»Wir verstehen das.«
»Und ich weiß, dass ihr noch zu tun habt, aber ihr müsst doch gewisse Theorien haben … irgendwelche Hypothesen … nach so vielen Jahren.« Flehend schaute Stephanie vom einen zum anderen. »Ich meine, ihr müsst doch …«
Die beiden Männer tauschten einen Blick aus, und wieder spürte sie die Telepathie zwischen ihnen, nur dass sie diesmal nicht wusste, welcher Gedanke transportiert wurde. Dave sah sie an. »Was genau willst du wirklich wissen, Stephanie? Raus mit der Sprache!«
18
»Glaubt ihr, dass er ermordet wurde?« Das wollte sie eigentlich wissen. Die beiden hatten Stephanie gebeten, den Gedanken außen vor zu lassen, und sie hatte gehorcht, aber da das Gespräch über Colorado Kid nun so gut wie vorbei war, nahm sie an, dass sie das Thema wieder aufs Tapet bringen durfte.
»Warum hältst du das für wahrscheinlicher als einen Unfalltod, wenn du alles in Betracht ziehst, was wir dir erzählt haben?«, wollte Dave wissen. Er klang ehrlich interessiert.
»Wegen der Zigaretten. Die Zigaretten muss er absichtlich mitgenommen haben. Er wäre nur nicht auf die Idee gekommen, dass es anderthalb Jahre dauern würde, bis jemand die Steuermarke aus Colorado entdeckt. Cogan glaubte, dass ein Toter ohne Papiere Gegenstand einer größeren Ermittlung sein würde.«
»Ja«, bestätigte Vince. Er sprach mit leiser Stimme, schüttelte dabei aber die geballte Faust wie ein Zuschauer, der gerade miterlebt, wie ein Spieler einen wichtigen Spielzug macht oder einen Superball schlägt.
»Gut, die Kleine. Gut aufgepasst!«
Auch wenn Stephanie erst zweiundzwanzig war, gab es Menschen, denen sie übel genommen hätte, von ihnen so genannt zu werden. Dieser Neunzigjährige mit dem schütteren weißen Haar, dem schmalen Gesicht und den durchdringenden blauen Augen gehörte nicht dazu. Ganz im Gegenteil wurde sie rot vor Freude.
»Cogan konnte nicht wissen, dass er an zwei Hohlköpfe wie O’Shanny und Morrison geraten würde«, sagte Dave. »Er konnte nicht wissen, dass er auf einen Studenten angewiesen sein würde, der in den vergangenen Monaten lediglich Aktentaschen geschleppt und Kaffee geholt hatte, ganz zu schweigen von den beiden Opis von der Wochenzeitung, die nicht viel mehr als eine Supermarktbeilage war.«
»Jetzt mal vorsichtig, Bruder«, sagte Vince. »Da muss ich widersprechen.« Er hob die Fäuste.
»Es hat doch noch geklappt«, sagte Stephanie. »Letztendlich hat er es geschafft.« Dann dachte sie an die Frau und den kleinen Michael, der inzwischen Mitte zwanzig sein musste.
»Seine Frau auch. Ohne Paul Devane und euch hätte Aria Cogan niemals Geld von der Versicherung bekommen.«
»Das stimmt«, willigte Vince ein. Stephanie fand es niedlich, dass es ihm irgendwie unangenehm war. Nicht dass er Erfolg gehabt hatte, sondern dass es jemand wusste. Hier draußen gab es Internet, auf so gut wie jedem Haus stand eine Satellitenschüssel, kein Fischerboot fuhr ohne GPS aus dem Hafen, und doch hielten sich die alten calvinistischen Überzeugungen hartnäckig in den Köpfen: Lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut.
»Was genau glaubst du, dass passiert ist?«, fragte sie.
»Nein, Steffi«, sagte Vince freundlich, aber entschieden. »Du rechnest immer noch damit, dass gleich Nero Wolfe oder Ellery Queen Arm in Arm mit Miss Marple aus dem Schrank getanzt kommen. Wenn wir wüssten, was passiert ist, wenn wir nur die geringste Ahnung hätten, dann hätten wir nicht lockergelassen. Scheiß auf den Boston Globe, dann hätten wir die Geschichte auf der Titelseite des Islander gebracht. Wir mögen 1981 kleine Journalisten gewesen sein und sind jetzt vielleicht kleine alte Journalisten, aber wir sind keine toten Journalisten. Eine gute Story macht mir immer noch Spaß!«
»Mir auch«, versicherte Dave. Er war aufgestanden, wahrscheinlich in Gedanken bei den Rechnungen, hockte aber nun auf der Schreibtischkante und schwang das Bein. »Ich habe immer davon geträumt, dass wir eine Story entdecken, die in ganz Amerika gedruckt wird, aber den Traum werde ich wohl mit ins Grab nehmen. Los, Vince, sag ihr, was du glaubst. Sie erzählt es nicht weiter. Sie ist jetzt eine von uns.«
Stephanie erschauderte vor Freude, ungewollt, aber Vince Teague schien es nicht zu bemerken. Er beugte sich vor und sah ihr in die hellblauen Augen. Seine Pupillen waren dunkler, von der Farbe des Meeres an einem sonnigen Tag.
»Na gut«, sagte er. »Schon lange vor der Sache mit der Steuermarke fand ich, dass irgendetwas an seinem Tod und an der Art, wie Cogan hergekommen war, merkwürdig sei. Als ich erfuhr, dass er eine Schachtel Zigaretten dabeihatte, in der nur eine fehlte, obwohl er seit spätestens halb sieben auf der Insel war, begann ich, mir Fragen zu stellen. Den Leuten bei Bayside News bin ich richtig auf die Nerven gegangen.«
Vince grinste bei der Erinnerung.
»Jedem im Laden habe ich Cogans Bild gezeigt, selbst dem Jungen, der da fegt. Ich war überzeugt, dass Cogan die Packung dort gekauft hatte, sofern er sie nicht an einem Automaten in einem Laden wie dem Red Roof, dem Shuffle Inn oder Sonny’s Sonoco gezogen hatte. Damals nahm ich an, dass seine Packung leer war und er sich eine neue besorgte. Ich ging davon aus, dass er sie um kurz vor elf Uhr bei Bayside News gekauft haben musste, denn um elf machen die zu. Das hätte erklärt, warum er vor seinem Tod nur eine geraucht und nur ein Streichholz entzündet hatte.«