Ich überließ sie Gregs Fürsorge und ging nach unten, und schließlich kam er erregt und ungehalten auch wieder herunter.
»Belinda ist ein Walroß«, sagte er. »Vicky heult. Sie möchte nicht im Haus von anderen Leuten sein. Und ich komme mir so hilflos vor.«
»Setzen Sie sich an den Ofen«, sagte ich. »Ich besorge uns was zu essen.«
Wenn ich es recht überlegte, hatte ich seit meiner Studienzeit in Oxford nicht mehr regelmäßig in England eingekauft. Ich war eher gewohnt, zu essen, was mir vorgesetzt wurde: Das Leben, das ich führte, war nur selten häuslich.
Ich fuhr zurück in den Vorort mit den verstreut liegenden Häusern, kaufte alle Grundnahrungsmittel, die mir einfielen, und kam mir vor wie ein Fremder im eigenen Land. Die Innenausstattung der Geschäfte war kaum merklich verändert gegenüber meinem letzten kurzen Besuch vor vier Jahren. Die angebotenen Artikel waren anders verpackt. Leuchtendere Farben. Sogar das Hartgeld hatte seine Form verändert.
Falls ich je eine klare Vorstellung davon gehabt hatte, was die Dinge in England kosteten, war sie mir abhanden gekommen. Alles erschien teuer, selbst nach Tokioter Maßstäben. Meine Unwissenheit wunderte die Verkäufer, da ich doch offensichtlich Engländer war, und insgesamt war es ein unerwartet verwirrendes Erlebnis. Ich fragte mich, wie es erst sein müßte, wenn jemand nach einem halben Jahrhundert wiederkam, zurückkam in die Welt der Kindheit meiner Eltern, eine Zeit, an die Millionen sich noch deutlich erinnerten.
Damals hatten alle Kinder im Winter Frostbeulen, sagte meine Mutter; aber ich hatte nicht gewußt, was eine Frostbeule war.
Ich nahm eine Flasche Whisky für Greg, eine Zeitung und noch ein paar andere Annehmlichkeiten mit und fuhr zurück nach Thetford Cottage, wo ich alles unverändert fand.
Greg erwachte aus einem Nickerchen, als ich ins Haus kam, und fand sich fröstelnd in der Diele ein. Der Anblick des Scotch ließ seine Augen aufleuchten. Er folgte mir in die Küche und sah zu, wie ich die Vorräte einräumte.
»Sie werden jetzt zurechtkommen«, sagte ich, als ich die Kühlschranktür schloß.
Er war bestürzt. »Aber Sie bleiben doch sicher?«
»Das hatte ich ... nicht vor.«
»Ja, aber ...« Seine Stimme wurde heiser vor Kummer. »Ich weiß, Sie haben schon viel für uns getan, aber bitte . nur noch eine Nacht?«
»Greg .«
»Bitte. Vicky zuliebe. Bitte.«
Auch ihm zuliebe, sah ich. Ich seufzte im stillen. Ich mochte sie ja wirklich gern, klar konnte ich über Nacht dortbleiben und die Wiederentdeckung Gloucestershires auf den Morgen verschieben, und so sagte ich gegen meine innere Überzeugung wiederum ja.
Seine Frau wachte am Abend um halb sieben auf und kam taperig die Treppe herunter, über deren Glätte sie sich beklagte.
Greg und ich hatten inzwischen dem Scotch zugesprochen, die Zeitungen von vorn bis hinten gelesen und herausgefunden, wie der Fernseher funktionierte. Wir hatten die Nachrichten gesehen, die wie üblich von Toten wimmelten. Erstaunlich, wie viele Arten zu sterben es gab.
Belinda hatte nicht angerufen.
Um sieben hielt jedoch ein Wagen draußen, und die Tochter kam herein wie zuvor, eher geschäftsmäßig als liebevoll. Aber diesmal hatte sie ihren Verlobten dabei.
»Mutter, du hast Ken doch vor zwei oder drei Jahren kennengelernt, gell?«
»Ja, Schatz«, sagte Vicky freundlich, obwohl sie mir gestanden hatte, sich nicht an ihn erinnern zu können. Sie bot ihm die Wange, und nach einem winzigen Zögern küßte er sie.
»Und das ist Greg«, sagte Belinda. »Er ist wohl mein Stiefvater.« Sie lachte kurz. »Komisch, wenn man einen Stiefvater hat nach all den Jahren.«
»Guten Abend«, sagte Ken höflich und gab Greg die Hand.
»Sehr erfreut, Sir.«
Greg schenkte ihm ein amerikanisches Lächeln, das reiner Firnis war, mit unsichtbaren Vorbehalten, und sagte, es freue ihn sehr, aus diesem frohen Anlaß in England zu sein.
Ken sah im Augenblick ganz und gar nicht froh aus. Unruhe schwang in jeder seiner Gesten, nicht die schlichte Nervosität vor der ersten Begegnung mit den zukünftigen Schwiegereltern, sondern ein viel tieferer, umfassenderer Kummer, zu stark, als daß er ihn hätte überspielen können.
Er war hoch aufgeschossen, dünn, rotblond und drahtig wie ein Langstreckenläufer. Ein norwegischer Einschlag vielleicht in der Kopfform und im hellen Blau seiner Augen. Gegen vierzig, schätzte ich, und vermutlich ging er völlig in seiner Arbeit auf.
»Entschuldigung«, sagte Belinda zu mir, ohne zerknirscht zu klingen. »Ich hab Ihren Namen nicht behalten.« »Peter Darwin.«
»Ah, ja.« Sie warf Ken einen Blick zu. »Mutters Helfer.«
»Guten Abend.« Er gab mir flüchtig die Hand. »Ken McClure«, sagte er.
Das kam mir sehr bekannt vor. »Kenny?« sagte ich unsicher.
»Nein. Ken. Kenny war mein Vater.«
»Oh.«
Keiner von ihnen achtete darauf, aber für mich war es, als hätte sich eine schlummernde Erinnerung in meinem Unterbewußtsein heftig geregt. Kenny McClure. So lange es auch her war, ich wußte etwas - aber was? - über Kenny McClure aus jener Zeit.
Er hatte sich umgebracht.
Das war’s, und ich erinnerte mich an die Neugier, die ich als Kind damals empfunden hatte, hörte ich doch zum erstenmal, daß Menschen sich umbringen konnten, und hätte gern gewußt, wie er es gemacht hatte und was für ein Gefühl es war.
Kenny McClure hatte in Cheltenham als Bahntierarzt fungiert. Ich wußte, daß ich ein paarmal mit ihm in seinem Landrover um die Bahn gefahren war, konnte mich aber nicht entsinnen, wie er ausgesehen hatte.
Ken hatte sich für den Abend in Schale geworfen und war in Schlips und Kragen gekommen, aber mit einem schwarzen und einem braunen Schuh. Belinda trug die olivgrüne Daunenjacke, darunter aber ein wadenlanges blaues Strickkleid, und machte Vicky Vorwürfe, weil sie sich nicht ebenfalls umgezogen hatte.
»Mutter, ehrlich, du siehst aus, als hättest du in den Sachen da geschlafen.«
»Hab ich auch, Liebes.«
Belinda scheuchte sie gereizt nach oben, um etwas weniger Zerknautschtes aufzutun, und Greg bot Ken einen Scotch an.
Ken beäugte die Flasche traurig. »Lieber nicht«, sagte er. »Muß noch fahren und so weiter.«
Ein kurzes Schweigen. Zwischen den beiden Männern gab es keinen direkten Draht. Blickkontakt minimal.
»Belinda hat uns erzählt«, sagte Greg schließlich, »daß Sie heute Probleme mit einem Pferd hatten.«
»Es ist gestorben.« Ken hatte einen Deckel auf die in ihm brodelnden Schwierigkeiten geschraubt, und seine Anspannung äußerte sich in abgehacktem Sprechen. »Wir konnten es nicht retten.«
»Das tut mir aufrichtig leid.«
Ken nickte. Seine hellen Augen blickten zu mir. »Bin heute abend nicht ganz in Form. Hab Ihren Namen vergessen.«
»Peter Darwin.«
»Ah ja. Irgendwie verwandt mit Charles?«
»Nein.«
Er musterte mich. »Wahrscheinlich sind Sie das schon öfter gefragt worden.«
»Hin und wieder.«
Er verlor das Interesse, doch ich hatte das Gefühl, daß er unter anderen Umständen mit mir besser ausgekommen wäre als mit Greg.
Ken versuchte es trotzdem. »Belinda sagt, man hat Sie überfallen, Sir, Sie und ... , äh, Mutter.«
Greg verzog bei der Erinnerung das Gesicht und schilderte ihm kurz den Vorfall. Ken tat sehr entrüstet. »Wie schlimm für Sie.«
Er sprach mit Gloucestershire-Akzent, nicht stark, aber doch erkennbar. Wenn ich wollte, konnte ich den Dialekt selbst noch sprechen, obwohl ich bald nach dem Einzug meines neuen Vaters auf dessen Eton-Englisch umgestiegen war. Er hatte mir sofort gesagt, ich sei ein Sprachtalent, und mich angehalten, meine ganzen Teenagerjahre hindurch intensiv Französisch, Spanisch und Russisch zu lernen. »Du wirst eine Sprache nie mehr so leicht lernen wie jetzt«, sagte er. »Damit du studieren kannst, schicke ich dich die beiden letzten Schuljahre nach England, aber um wirklich vielsprachig zu sein, mußt du Sprachen da lernen, wo sie gesprochen werden.«