»Wer hat zuletzt kontrolliert?«
»Ich.« Er sagte es automatisch, dann erst ging ihm die Bedeutung meiner Frage auf. Er sagte noch einmal, langsamer: »Ich habe zuletzt kontrolliert. Ich sehe ein, daß ich das vielleicht nicht hätte tun sollen. Aber ich wollte sicher sein.«
Die Äußerung und die Handlungsweise eines Unschuldigen, dachte ich bei mir.
Ich sagte: »Wäre es unter den Umständen nicht vielleicht klüger gewesen, das Röhrbein von einem der anderen Tierärzte operieren zu lassen?«
»Was?« Er sah mich verdutzt an, begriff dann, daß ich mich nicht auskannte, und erklärte die Sache. »Wir sind Partner in einer großen Allgemeinpraxis, aber jeder von uns hat sein Spezialgebiet. Carey und zwei Frauen sind Kleintierärzte, obwohl Lucy Amhurst auch Schafe und Pferde behandelt. Jay Jardine behandelt Rinder. Ich Pferde. Oliver Quincy ist Großtierarzt, macht aber wenn, dann nur kleinere Operationen und noch dazu fast nie hier im Spital. Kastrationen und all so etwas. Das wird vor Ort gemacht.«
Er hatte beinah aufgehört zu zittern, so, als hätte das Darüberreden und Erklären schon den schlimmsten Druck von ihm genommen.
»Bis zu einem gewissen Grad sind wir austauschbar«, sagte er.
»Ich meine, jeder von uns kann eine Schnittwunde nähen, sei es bei einem Frettchen oder bei einem Zugpferd. Jeder von uns kennt die gängigen Tierkrankheiten und Heilmittel. Aber darüber hinaus spezialisieren wir uns.« Er schwieg. »Genaugenommen gibt es nicht allzu viele Chirurgen wie mich im Land. Ich bekomme Überweisungen von anderen Ärzten. Diese Klinik hat sich einen Ruf erworben, den zu verlieren wir uns nicht leisten können.«
Ich überlegte ein wenig und fragte: »Sind auch in der Hunde- und Katzenabteilung überdurchschnittlich viele Unglücke passiert?«
Ken schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Nur bei den Pferden.«
»Rennpferde?«
»Meistens. Aber vor ein paar Wochen war es ein Springpferd mit Olympiaqualifikation - und das ist nicht bei einer Operation gestorben. Ich mußte es einschläfern.« Er sah gequält ins Leere.
»Eine Woche vorher hatte ich sein linkes Hinterbein zusammengeflickt, das es sich bei einem unglücklichen Rumpier durchbohrt hatte, und davon erholte es sich zu Hause ganz gut. Dann haben sie mich angerufen, weil das ganze Bein dick geschwollen war wie ein Ballon und die Sehne völlig kaputt. Das arme Tier konnte nicht auftreten. Ich gab ihm ein Schmerzmittel, brachte es her und schnitt ihm das Bein auf, aber es war hoffnungslos ... die Sehne
hatte sich zersetzt. Da gab es nichts zu flicken.«
»Kommt das oft vor?« fragte ich.
»Nein, weiß Gott nicht. Der Besitzer war wütend, seine Tochter in Tränen aufgelöst, das ganze Haus in Aufruhr. Gott sei Dank hatten sie das Pferd versichert, sonst hätten wir den nächsten Prozeß am Hals gehabt. Wir haben uns schon gegen Kunstfehler versichern müssen wie die amerikanischen Ärzte. Heutzutage gibt es einige sehr streitlustige Leute in der Pferdewelt. Sie verlangen absolute Perfektion, und die ist unmöglich.«
Ich hatte das unbestimmte Gefühl, er habe irgend etwas ausgelassen, kam aber zu dem Schluß, daß es sich wohl um eine technische Einzelheit handelte, von der er wußte, ich würde sie nicht verstehen. Ich hatte ohnehin keinen Anspruch darauf, daß er mir jeden einzelnen Gedanken mitteilte.
Die Nacht wurde kälter. Ken schien ganz in sich hineinzuhorchen. Ich spürte ein großes Verlangen, etwas von dem Schlaf nachzuholen, den ich versäumt hatte. Niemand würde kommen und die Klinik in Brand stecken. Es war blöd von mir gewesen, das aufs Tapet zu bringen.
Ich schüttelte das Schlafbedürfnis ab und ging auf den Korridor hinaus. Alles ruhig, alles hell erleuchtet. Ich lief in die Eingangshalle und überzeugte mich, daß die Tierärzte die Vordertür abgeschlossen hatten, als sie gegangen waren.
Alles sicher.
Die Eingangshalle war zwar naß, aber deutlich wärmer als der Korridor und das Büro. Ich hielt meine Hand an die Wand, die dem abgebrannten Gebäude am nächsten lag, und fühlte die Wärme in ihr - eher angenehm als gefährlich. Die massive Tür zu dem verglasten Verbindungsgang war mit Riegeln gesichert und trug ein
Plastikschild mit der gestanzten Anweisung: »Feuerschutztür. Bitte geschlossen halten.« Der Türflügel war wärmer als die Wand, aber nicht annähernd heiß genug zum Eierbacken.
Eine dritte Tür führte von der Eingangshalle in einen geräumigen spartanischen Waschraum, und hinter einer vierten befand sich Reinigungsgerät. Nirgendwo kauerten Brandstifter.
An dem stillgelegten Kaffeeautomaten vorbei kehrte ich ins Büro zurück und bat Ken, mir den Rest der Klinik zu zeigen. Teilnahmslos stand er auf und sagte mir, daß das Büro, in dem wir waren, den jeweils operierenden Ärzten dazu diente, ihren Bericht über den Operationsverlauf und die verabreichten Medikamente zu schreiben. Die Berichte, setzte er mit einem verzweifelten Kopfschütteln hinzu, kamen dann ins Sekretariat und zu den Akten.
»Nicht in den Computer?« fragte ich und schnippte mit dem Finger nach einem Monitor, der neben dem Schreibtisch stand.
»In den Hauptcomputer schon, aber unsere Sekretärin gibt nur das Datum, den Namen des Tieres, seines Besitzers, die Art des Eingriffs und ein Aktenzeichen ein. Den ganzen Bericht einzutippen dauert zu lange, und außerdem schleichen sich dabei Fehler ein. Wer seine Aufzeichnungen konsultieren will, ruft einfach das Aktenzeichen auf und sucht den Bericht im Original heraus.« Er machte eine hilflose Handbewegung. »Jetzt dürften die Akten alle hinüber sein. Und der Computer wohl auch. Das Terminal hier ist jedenfalls tot. Es gibt also keine Belege mehr dafür, daß die Operationen, bei denen die Pferde gestorben sind, ordnungsgemäß ausgeführt wurden.«
Ich überlegte, daß andererseits, nämlich wenn es
Abweichungen vom normalen Verfahren gegeben hatte, auch die Belege dafür vom Tisch waren. Und doch nahm ich Ken seine Verzweiflung ab, weshalb wäre ich sonst mitten in der Nacht in einem Tierspital herumgelaufen, auf der Suche nach Leuten, die mit Streichhölzern spielten.
»Das Ärgerlichste ist«, sagte Ken, »daß der Architekt, von dem wir die Klinik haben bauen lassen, uns gesagt hat, das Sekretariat entspreche nicht seinen Vorstellungen von Feuerfestigkeit. Er meinte, wir sollten überall massive Feuerschutztüren einbauen, und ehrlich gesagt, das wollten wir nicht, die halten einen so auf. Wir wußten, die würden doch immer offenstehen. Aber wie man sieht, hatte er recht. Er bestand darauf, daß wenigstens an beide Enden des Verbindungsgangs eine feuerfeste Tür kam, und die Feuerwehr sagt, daß diese Türen - und die Länge des Durchgangs - die Klinik gerettet haben.«
»Weshalb ist der Durchgang so lang?«
»Hat was mit dem Untergrund hier zu tun. Weiter vorn war er zum Bauen nicht geeignet. Also brauchten wir den Durchgang, um nicht im Regen von Gebäude zu Gebäude laufen zu müssen.«
»Glück gehabt.«
»Sieht ganz so aus.«
»Wie alt ist die Klinik?«
»Drei, vier Jahre«, sagte Ken. »Dreieinhalb so ungefähr.«
»Und alle benutzen sie?«
Er nickte. »Natürlich nicht für kleinere Sachen. Häufig handelt es sich um irgendeinen Notfall. Angefahrener Hund oder so. Wir haben einen Kleintiertrakt. Ansonsten gibt es - gab es - die beiden Kleintierbehandlungszimmer drüben im Hauptgebäude, für Impfungen und so weiter.«
Er schwieg. »Gott, ist das alles deprimierend.«
Er führte mich vom Büro auf den Gang hinaus. Der Fußboden war durchgehend mit schwarzen, grau gestreiften Vinylfliesen ausgelegt, die Wände unerbittlich weiß. Die Klinik war eben nicht darauf abgestellt, die Ängste menschlicher Patienten zu lindern: strenges
Zweckbewußtsein herrschte, gepaart mit dem Geist der Feuerbeständigkeit.
Nichts war aus Holz gefertigt. Die Türen waren durchweg aus Metall, in Metall eingefaßt, braun gestrichen. Hinter drei nebeneinanderliegenden auf der linken Seite seien Lagerräume, sagte Ken. Sie waren abgesperrt. Ken schloß sie auf, und wir schauten hinein: alles ruhig.