»So ein Schwein«, sagte sie mit zitternder Stimme. »So ein Dreckskerl. Er hat einfach dran gezogen ... gezerrt ... er hat mir das halbe Ohr abgerissen.«
»Gehen Ohrringe sonst nicht leichter ab?« fragte der Polizist treuherzig.
Vickys Stimme war schrill vor Wut und Empörung. »Wir haben sie in Brasilien gekauft.«
»Ehm ...«:, sagte der Polizist verdattert.
»Vicky«, schaltete sich Fred ein, »was spielt es für eine Rolle, ob sie aus Brasilien sind?«
Sie blickte ihn verwirrt an, als könne sie nicht verstehen, daß er nicht verstand.
»Die haben keine Schmetterlingsclips auf der Rückseite«, stieß sie hervor. »Die haben Schmetterlingsschrauben. Eine Schraube mit Mutter, damit sie nicht rausfallen können und verlorengehen. Und damit sie keiner klauen kann ...« Ihre Stimme ging in Schluchzen unter, ein Geräusch, das sie selbst auf einmal zu mißbilligen schien, denn sie schnüffelte wieder energisch und straffte die Schultern. Sie nimmt all ihre Kraft zusammen, dachte ich. Droht zu zerbrechen, kämpft dagegen an. Hat ihre Erregung gerade noch im Griff.
»Und noch etwas«, jammerte sie, wobei Unglück und Zorn in ihr erneut um die Vorherrschaft rangen. »Die haben meine Handtasche gestohlen. Da ist mein Paß drin ... und, ach verdammt, meine Aufenthaltsgenehmigung ... und unsere Flugscheine ...« Ein paar Tränen zwängten sich an ihren guten Vorsätzen vorbei. »Was sollen wir bloß machen?«
Auf den verzweifelten Appell antwortete Fred wieder ganz praktisch, indem er sagte, er sei nicht umsonst Konsul und werde sie mit Leichtigkeit zur Hochzeit ihrer Tochter bringen.
»Ma’am«:, sagte der Polizist, an Reisevorkehrungen nicht interessiert, »können Sie die beiden Männer beschreiben?«
»Es war dunkel.« Sie schien sich plötzlich über ihn zu ärgern. Über alles. Wütend sagte sie: »Sie waren dunkelhäutig.«
»Schwarz?«
»Nein.« Sie war unsicher, nicht nur verärgert.
»Was denn, Ma’am?«
»Dunkelhäutig. Ich kann nicht denken. Das Ohr tut mir weh.«
»Kleidung, Ma’am?«
»Schwarz . Was spielt das für eine Rolle? Ich meine . die waren so schnell. Er wollte mir die Ringe abnehmen ...«
Sie streckte ihre Finger aus. Wenn die Steine echt waren, lohnte es sich, sie zu stehlen.
»Mein Verlobungsring«, erklärte sie. »Dank Peter hat das Schwein ihn nicht gekriegt.«
Die schrille Sirene eines Krankenwagens mit grellem Blaulicht zerriß die Nacht, Sanitäter stürzten zielbewußt heraus, übernahmen mit professionellem Schwung das Kommando und behandelten Vicky und Greg wie Kinder. Der Polizist sagte Vicky, er werde ihnen ins Krankenhaus folgen und eine ordnungsgemäße Aussage aufnehmen, sobald sie und Greg ärztlich versorgt seien, doch sie schien das nicht mitzubekommen.
Mit Blinklicht und heulenden Sirenen trafen zwei weitere Polizeiwagen ein, die genug blaue Gestalten ausspien, um die halbe Nachbarschaft zu verhaften, und im Nu hatten Fred und ich die Hände auf dem Wagendach und wurden gefilzt, sosehr wir auch beteuerten, daß wir nicht die Straßenräuber seien, sondern der britische Konsul, Freunde und Zeugen.
Der nette erste Polizist schaute sich das kurz an und sagte etwas, was ich in dem Trubel nicht verstand, aber zumindest schien es den schlimmsten Verdacht von uns abzuwenden. Fred wiederholte laut, er sei der britische Konsul, und diesmal wurde er barsch aufgefordert, das doch bitte zu beweisen. Man erlaubte ihm, eine überdimensionale Kreditkarte hervorzuholen, die seinen diplomatischen Status belegte, worauf man widerstrebend einen etwas anderen Ton anschlug.
Greg war auf den Beinen. Ich machte einen Schritt auf ihn zu und wurde von einem mitternachtsblauen Arm aufgehalten.
»Lassen Sie sich seine Wagenschlüssel geben«, sagte ich.
»Wenn der Wagen die ganze Nacht hier stehenbleibt, wird er gestohlen.«
Widerwillig rief die mitternachtsblaue Figur etwas über ihre Schulter, und bald darauf drang die Auskunft zu uns durch, daß Greg die Schlüssel beim Auto verloren hatte, als er angegriffen wurde. Mitternachtsblau schaute nach, fand die Schlüssel und händigte sie nach Rücksprache Fred aus.
Die Uniformierten gingen mit einer Schnelligkeit vor, die zweifellos auf viel Übung beruhte und der bei solchen Fällen üblichen Gangart entsprach. Vicky und Greg wurden in den Krankenwagen gesetzt, der sogleich abfuhr, und der erste Polizist fuhr hinterdrein. Andere Polizisten kämmten die umliegenden Straßen nach den Räubern ab, falls die sich noch in der Gegend versteckt hielten. Wohl kaum, dachte ich.
Einer von der neuen Truppe setzte meinen Namen unter den von Fred und stockte, als ich ihm die Anschrift nannte: Auswärtiges Amt, Whitehall, London, England.
»Diplomatische Immunität, wie bei ihm?« fragte er mit Blick auf Fred.
»Ich bin Ihnen gerne behilflich«, sagte ich.
Er saugte eine Weile an seinem Kugelschreiber und fragte mich dann, was ich beobachtet hätte.
Ich berichtete ihm ziemlich ausführlich.
Hatte ich den einen Ganoven aus der Nähe gesehen?
Ja, sagte ich, da er mich geschlagen habe.
Aussehen?
»Dunkelhäutig.«
»Schwarz?«
Mit der Hautfarbe tat ich mich genauso schwer wie Vicky.
»Kein Westinder oder Afrikaner«, sagte ich. »Vielleicht Mittelamerikaner. Spanische Herkunft vielleicht. Er hat nichts gesagt. Mehr kann ich Ihnen da nicht bieten.«
»Kleidung?«
»Schwarz.« Ich dachte zurück, erinnerte mich, wie ich versucht hatte, ihn umzureißen, wie seine Sachen sich angefühlt hatten. »Schwarze Jeans, schwarzes Baumwoll-Sweatshirt, schwarze Turnschuhe, würde ich sagen. Als er weglief, war nicht viel von ihm zu sehen.«
Ich schätzte sein Alter, seine Größe, sein Gewicht und so weiter, hatte aber ein zu verschwommenes Bild von ihm, um sicher zu sein, daß ich ihn bei Tag, in einem anderen Aufzug, wiedererkennen würde.
Mitternachtsblau klappte sein Notizbuch zu und zog zwei Karten mit seinem Namen hervor, eine für Fred, eine für mich. Er wäre dankbar, deutete er an, wenn wir uns am nächsten Morgen um zehn auf seinem Revier melden würden, und er vermittelte uns den Eindruck, daß die Bitte, hätten wir nicht unter dem Schutz und Schirm des Außenministeriums gestanden, ein Befehl gewesen wäre.
Die ausgeschwärmten Fahnder kehrten zwar ohne Ganoven zurück, überraschenderweise aber mit Vickys abgerissenem Ohrring, den sie am Boden gefunden hatten. Eingetütet und etikettiert, wurde er feierlich in polizeilichen Gewahrsam genommen. Von der großen weißen, juwelenbesetzten Handtasche, von Gregs Brieftasche und seiner Reisetasche mit dem Schultergurt fehlte anscheinend jede Spur.
So schnell, wie sie gekommen waren, zogen die Mitternachtsblauen ab und ließen eine plötzliche, lähmende Stille zurück, in der Fred und ich uns leicht beduselt anschauten und überlegten, was jetzt zu tun sei.
Die paar neugierigen Anwohner verschwanden in ihren Häusern, nachdem sie für den Lärm und die blauweißrote Festbeleuchtung ohnehin denkbar wenig Interesse auf gebracht hatten, so als seien sie nichts anderes gewöhnt -, und dabei, bemerkte Fred traurig, nannte sich das hier ein ruhiges Viertel.
»Am besten fahren Sie den BMW zum Krankenhaus«, sagte Fred, »und holen die beiden ab und bringen sie nach Hause.«
»Hm .«
»Ich selber kann nicht«, erklärte er. »Ich habe Meg versprochen, nicht zu spät wiederzukommen. Sie hat alle Hände voll zu tun . die Kinder haben geheult, weil der Ausschlag so juckt.«
»Läßt das Krankenhaus sie denn nicht in einer Ambulanz heimbringen?« fragte ich.
Fred sah mich mitleidig an. »Hier gibt es keinen staatlichen Gesundheitsdienst. Man zahlt sich dumm und dämlich.«
»Also gut«, sagte ich. »Wo ist das Krankenhaus?«
Er begann mir den Weg zu erklären, zuckte schließlich aber die Achseln und sagte, ich solle hinter ihm herfahren; so brachte er mich dann bis zur Einfahrt, zeigte durch sein heruntergelassenes Fenster eindringlich auf das Tor und sauste, ohne sich noch mit Reden aufzuhalten, heim zu den Windpocken.