Alles wirkte durchaus vertraut. Der langsame Zug von einer Box zur anderen, die kurze Unterhaltung zwischen Trainer, Bursche, Futtermeister über das Befinden eines jeden Pferdes, der Klaps und die Möhre vom Trainer, der auch gelegentlich ein suspektes Pferdebein abtastete. Ken besprach die alten Verletzungen der Insassen mit Zoe, und der alte Mackintosh gab dem Futtermeister einen Schwall von Anweisungen, die ernst zur Kenntnis genommen wurden, sich für mich aber widersprüchlich anhörten.
Zwischendurch fragte ich Zoe, in welchen Boxen die beiden Atropin-Kolikfälle gestanden hatten.
»Reg«, wandte sie sich an den Futtermeister, »unterhalten Sie sich mal mit meinem Bekannten hier, ja? Antworten Sie ihm auf alle Fragen.«
»Auf alle!« hakte er nach.
Sie nickte. »Er ist auf der richtigen Seite.«
Reg, klein und drahtig wie Mackintosh selbst, musterte mich argwöhnisch und ohne Sympathievorschuß. Reg, dachte ich, könnte auf der falschen Seite sein.
Ich fragte ihn trotzdem nach den Boxen. Widerwillig zeigte er darauf und sagte mir ihre Nummern, 6 und 16. Die Zahlen waren über den Türen schwarz auf die weiße Wand gemalt. Nr. 6 und Nr. 16 unterschieden sich in nichts von den anderen.
Reg, der die Tüte mit den Mohrrüben trug, reichte Zoe und ihrem Vater an jeder Box welche und wollte dabei nicht von mir gestört werden.
»Kennen Sie jemanden namens Wynn Lees?« fragte ich ihn.
»Nein.« Die Antwort kam sofort, ohne vorhergehende Denkpause.
Der alte Mackintosh, der gerade eine Mohrrübe entgegennahm, hatte die Frage auch gehört und gab eine andere Antwort.
»Wynn Lees?« sagte er vergnügt mit seiner hohen, lauten Stimme. »Der hat mal einem die Hose an die Eier genietet.« Er lachte lang und spitz, ein wenig keuchend. »Mit der Nietmaschine«, setzte er hinzu.
Ich blickte zu Ken. Er war vor Schreck erstarrt, sein Mund stand offen.
»Paps!« protestierte Zoe automatisch.
»Stimmt doch«, sagte ihr Vater. »Ich glaub, das stimmt wirklich, weißt du.« Er runzelte bekümmert die Stirn, als die Erinnerung ihm entglitt. »Ein bißchen träum ich ja, ab und zu.«
»Kennen Sie ihn, Sir?« fragte ich.
»Wen?«
»Wynn Lees.«
Die blauen Augen funkelten mich an. »Er ist fortgegangen ... Ich nehme an, er ist tot. Sechs ist Vinderman.«
»Komm, Paps«, sagte Zoe und ging weiter an den Boxen entlang.
Er sagte schelmisch, als gäbe er einen Kinderreim zum besten: »Revised Edition, Wishywashy, Pennycracker, Glue.«
Zoe sagte: »Davon will doch keiner was hören, Paps.«
Ich fragte ihn: »Was kommt nach Glue?«
»Faldy, Vinderman, Kodak, Boy Blue.«
Ich lächelte breit. Er lachte zufrieden, freute sich.
»Das sind Namen von Pferden, die er vor langer Zeit trainiert hat«, sagte Zoe. »Die neuen Namen behält er nicht.« Sie faßte ihn beim Arm. »Laß uns weitergehn, die Burschen warten schon.«
Er ging bereitwillig mit, und wir kamen zu einem Pferd, von dem Zoe sagte, es sei viel kräftiger und zäher, seit es gelegt worden sei. Gelegt gleich kastriert, dachte ich. Die meisten männlichen Hindernispferde waren Wallache.
»Oliver Quincy hat das gemacht«, sagte Zoe.
Ken nickte. »Das kann er gut.«
»Er war ein paarmal hier, er hat drei oder vier gelegt. Paps mag ihn.«
Ken sagte neutraclass="underline" »Wenn er will, kann Oliver ganz nett sein.«
»Oliver?« fragte Mackintosh. »Haben Sie Oliver gesagt?«
»Ja, Sir. Oliver Quincy.«
»Der hat mir einen Witz erzählt. Mußte ich drüber lachen. Ich weiß ihn nicht mehr.«
»Er erzählt gern Witze«, stimmte Ken zu.
Am Sonntag war Olivers Witz von den vier Tieren, die eine Frau am liebsten hat, nicht angekommen. Meiner Mutter würde er gefallen, dachte ich.
Wir kamen zur letzten Box. »Poverty«, sagte Mackintosh und gab einem Fuchs mit Stern eine Mohrrübe. »Wie macht er sich, Reg?«
»Immer besser, Sir.«
»Ist sie noch rossig?« fragte ihn Zoe.
Reg schüttelte den Kopf. »Sie geht in Ordnung für Samstag.«
»Wie heißt sie denn?« fragte ich. »Soll ich auf sie setzen?«
»Metrella«, sagte Zoe, »und tun Sie’s nicht. Danke, Reg. Das war’s dann. Ich bin nachher unten.«
Reg nickte, und Zoe scheuchte alles wieder in den Landrover bis auf die Hunde, die unterschiedlich schnell hinterdrein rannten.
Zoe lud uns halbherzig ein, noch auf ein Glas mit hereinzukommen, und war nicht böse, als wir ablehnten.
»Lassen Sie sich mal wieder sehen«, sagte Mackintosh herzlich.
»Danke, Sir«, sagte Ken.
Ich schaute an der breiten Vorderfront entlang, dem verwitterten Gemäuer mit seinem Mühlrad auf der anderen Seite, an dem alten, für immer verschwundenen Bach.
»Herrliches Haus«, sagte ich. »Ein Stück Geschichte. Ich wüßte gern, wer früher hier gewohnt hat.«
»Da es schon zweihundert Jahre alt ist, kann ich Ihnen nicht alle aufzählen, aber die Leute, von denen Paps es gekauft hat, das war eine Familie Travers.«
Ken wollte nicht über die Mackintoshs mit mir reden, sondern über seine Sitzung mit dem Kommissar, die ihn mehr als alles andere beschäftigte. Als wir zu seinem
Wagen kamen, blieben wir noch eine Weile in meinem sitzen, und er erzählte mir, was sich im Büro getan hatte, nachdem ich gegangen war.
»Kommissar Ramsey wollte wissen, ob uns irgendwelche Gummihandschuhe fehlen. Also wirklich, wie sollen wir das beantworten? Die kaufen wir in Hunderter-Kartons. Wenn sie ausgehen, ordern wir nach. Carey sagte ihm, er solle uns was Leichteres fragen.«
»Carey war mit Ihnen da?«
»Ja, eine Zeitlang. Ich sagte Ramsey, daß wir Handschuhe in verschiedenen Größen haben. Yvonne braucht sechseinhalb. Meine sind viel größer. Er hat eine Unmenge Fragen gestellt. Woraus die Handschuhe bestehen. Wo wir sie kaufen. Wie oft wir sie zählen. Wie wir sie loswerden. Ich fragte ihn, ob er irgendwelche gebrauchten Handschuhe gefunden habe, die herumlagen, aber das wollte er nicht sagen.«
Als er Luft holte, sagte ich: »Woraus bestehen sie denn?«
»Aus Latex. Sie haben sie doch oft genug gesehen. Jedes Paar ist einzeln steril verpackt. Sie haben gesehen, wie ich sie in den Abfallbehälter werfe. Ich meine, es kann sein, daß ich bei einer Operation drei Paar davon verbrauche. Kommt immer drauf an. Dann verlegte er sich also auf Kittel, Kappen und Mundschutz, und da gibt es zwar weniger Größen, aber sonst ist es dasselbe. Wir werfen sie weg. Wir werfen die Verpackung weg. Wir könnten eigentlich nur beschwören, daß keine Laborkittel fehlen, denn die sind nicht zum Wegwerfen, die kommen in die Reinigung. Ramsey meinte, ob es nicht Verschwendung sei, so viel wegzuwerfen. Er hat keine Ahnung von aseptischem Arbeiten. Von Überschuhen hatte er noch nie was gehört. Nachdem eine solche Armee von Ärzten, Polizeibeamten und Fotografen durch den Operationssaal marschiert ist, hätte ich eigentlich gedacht, daß man alle Hoffnung, herauszubekommen, wer da drin war, aufgeben kann.«
»Mhm.«
»Und wie kommt er darauf, daß jemand Asepsis braucht, um einen Mord zu begehen?«
»Das haben Sie mir selbst gesagt.«
»Und zwar?«
»Um keinen verräterischen persönlichen Abfall bei Scott zu hinterlassen. Kein Haar, keine Haut, keine Fusseln, kein gar nichts.«
Er kniff die Augen zusammen. »Glauben Sie das wirklich?«
»Ich weiß es nicht, aber ich nehme an, sie haben keine Fingerabdrücke auf dem Nahthefter gefunden und gehen deshalb davon aus.«
»Entsetzlich, das alles«, sagte er.
»Was haben sie sonst noch gefragt?«
»Sie fragten, ob ich glaube, daß Scott die Pferde getötet hat.«
»Mhm.«