Sie saß mit offenem rosa Mund einfach nur da und starrte mich an.
»Das Problem ist«, sagte ich, »man kann in Cheltenham nicht grad mal um die Ecke gehen und einen Kugelfisch kaufen.«
Kapitel 11
Der Abend mit Annabel, voller Lachen trotz des grausigen Bildes, das ich ihr vor Augen geführt hatte, endete wie schon einmal nicht im Bett, sondern mit einem Kuß.
Ein kurzer Kuß, aber auf die Lippen. Danach trat sie einen Schritt zurück und sah mich unschlüssig an. Ich spürte noch die weiche Berührung ihres Mundes: ein geschlossener Mund, selbstbeherrscht.
»Wie wär’s mit Freitag?« sagte ich.
»Sie haben die Fahrerei bestimmt schon satt.«
»Bald sind es nur noch zwei Meilen, nicht mehr hundert.«
Hätte sie nicht gewollt, daß ich nur zwei Meilen entfernt war, würde sie es nicht arrangiert haben. Ich hätte gern gewußt, ob es ihr so ging wie mir - ob sie wie auf Wolken schwebte, halb aber auch Angst hatte vor einem Buschfeuer.
»Freitag«, willigte sie nickend ein. »Dieselbe Zeit, derselbe Ort.«
Widerstrebend brach ich auf, fuhr zurück nach Cheltenham, wo ich eine unruhige Nacht verbrachte, voller verwirrender Träume. Beim Aufwachen dachte ich, daß etwas in den Träumen war, das ich behalten sollte, doch die Phantomfilme verblaßten sehr schnell. Ich hatte Träume noch nie gut behalten. Konnte mir nicht vorstellen, wie es war, sie beim Aufwachen noch genau in Erinnerung zu haben. Ich nahm ein Bad und zog mich an und frühstückte mit Vicky und Greg.
»Sie sehen müde aus«, sagte Vicky in einem Ton, als bitte sie um Entschuldigung. »Hätte man uns in Miami nicht überfallen, wären Sie in diese ganze Sache nicht hineingeraten.«
Und ich wäre nicht zum Pferderennen nach Stratford gefahren, dachte ich, und ich hätte Annabel nie kennengelernt.
»Ich bedaure nichts«, sagte ich. »Finden Sie es jetzt schon angenehmer, hier zu wohnen?«
»Sterbenslangweilig«, sagte sie vergnügt. »Diese Hochzeit rückt und rückt nicht näher. Ich kann es kaum erwarten, wieder daheim zu sein.«
Ich lungerte ungeduldig herum, bis der Briefträger kam, doch er brachte nur einen von den Antwortbriefen, und das war nicht der von Parkway Chemicals. Der einzige Brief, der innerhalb von zwei Tagen beantwortet worden war, enthielt einen ganzen Stoß Rechnungen für Dinge, von denen ich noch nie gehört hatte. Ich steckte sie wieder in den Umschlag und rief Ken unter der Nummer seines Funktelefons an.
Es dauerte eine Weile, bis er sich meldete. Er gähnte. »Ich bin erschlagen«, sagte er. »Hab mich die halbe Nacht in einem Rennstall mit einer Kolik abgemüht.«
»Ich dachte, die Partnerschaft besteht nicht mehr.«
»Mag sein«, sagte er, »aber ich bin immer noch Tierarzt, und Pferde werden immer noch krank, und wenn ich um drei Uhr früh als einziger zu erreichen bin, dann gehe ich eben.«
»Zu operieren brauchten Sie nicht, oder?«
»Nein, nein. Ich habe es mit Schmerzmitteln und mit Herumführen wieder klargekriegt. Es hat den Stall nicht verlassen.«
»Welcher Trainer?«
»Keiner, den Sie kennen. Ich versichere Ihnen, das war eine echte, unkomplizierte, ganz normale Kolik.«
»Großartig.« Ich teilte ihm mit, daß die Antwort eines Pharmaproduzenten gekommen war und daß zumindest ich dafür einen Dolmetscher brauchte. In einer halben Stunde sei er bei mir, versprach er. Vicky solle ihm bitte etwas zu essen machen, fügte er hinzu.
Als er kam, aß ich ein zweites Frühstück mit ihm in der ungemütlichen Küche, wo wir auf harten Stühlen um einen weißen Formicatisch herumsaßen. Vicky machte Toast wie am Fließband.
»Ihr mit eurem Wolfshunger«, sagte sie. »Einfach ungerecht, daß ihr nicht dick werdet.«
»Du bist ein Engel«, sagte Ken. Vicky schnaubte, aber sie hörte es gern.
Restlos gesättigt nahm Ken die Rechnungen aus dem Umschlag und schaute sie durch.
»Sie haben die von einem ganzen Jahr geschickt«, stellte er fest.
»Mal sehen ... Natrium, Kalium, Kalzium, Chlor ... mhm, das sind die Bestandteile der Ringerlösung.«
»Was ist Ringerlösung?«
»Ein Allzweck-Blutersatz. Das Zeug in den Tropfinfusionen.«
»Oh.«
»Bei Operationen verwende ich die handelsüblichen sterilen Fertigpackungen mit Basislösung«, sagte er, »aber für die Infusionen im Stall machen wir uns die Lösung selbst, da das viel billiger kommt. In der Apotheke wiegt Scott ...« Er seufzte.
»Scott hat immer die Wirkstoffe hier ausgewogen, lauter weiße kristalline Pulver, und sie in Plastikbeuteln gelagert. Brauchen wir Lösung, geben wir destilliertes Wasser hinzu.«
Er schaute weiter die Rechnungen durch und runzelte die Stirn.
»Wir haben ja eine Menge Kalium verbraucht«, sagte er.
»In den Lösungen?«
Er nickte. »Bei Durchfallpatienten wird üblicherweise noch Kalium zugesetzt, weil sie dehydrieren und zuviel Kalium ausscheiden. Man kann es auch in den fertigen Infusionsbeutel injizieren.«
Er saß da und starrte ins Leere, ähnlich vor den Kopf geschlagen wie ich von Fugu.
Ich wartete. Er schluckte und wurde langsam rot, ganz entgegen seinem gewohnten Blaßwerden.
»Ich hätte es sehen müssen«, sagte er.
»Was denn?«
»Kaliumchlorid. O Gott.« Er zog seinen geistesabwesenden Blick von der Richtung des Küchenherdes ab und schaute mich entsetzt an. »Das hätte ich sehen müssen. Viermal! Ach du Schande.«
Ich konnte nicht sagen, ob seine Beschämung gerechtfertigt war oder nicht, denn mir fehlte das Fachwissen. Aber wie ich Ken kannte, würde er sich jeden Fehler bis zum Exzeß vorhalten und lange brauchen, um darüber hinwegzukommen.
Ich sagte: »Ich habe Ihnen immer gesagt, daß Sie eines Tages vor dieser Erkenntnis stehen würden. Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie irgendwo, irgendwie Bescheid wissen.«
»Ja. Ich glaube, jetzt weiß ich es. Ich glaube, die vier bei der Operation Gestorbenen sind an überhöhtem Kaliumblutspiegel gestorben, an Hyperkaliämie, wie man sagt, und das hätte ich damals sehen müssen.«
»Sie hatten nicht erwartet, daß mit der Lösung etwas nicht stimmt.«
»Trotzdem ...« Er runzelte die Stirn. »Die Serumproben von dem letzten gestorbenen Pferd lagen im Labor, als es abgebrannt ist. Jetzt läßt sich das nicht mehr nachweisen, aber je mehr ich zurückdenke ...«
»Weiter«, sagte ich, da er zögerte.
»Die EKG-Kurven, von denen ich Ihnen erzählt hatte, daß sie verändert aussahen? Da gibt es die P-Wellen, die von den Herzvorhöfen ausgehen, und deren Höhe hatte sich verringert. Das Herz schlug langsamer.«
»War es nicht Scotts Sache, Ihnen das zu sagen?«
»Der Kapitän ist für das Schiff verantwortlich. Ich werfe immer mal einen Blick auf das EKG, auch wenn er es überwacht. Ich bin einfach nicht darauf gekommen, daß die Verlangsamung mit Kaliumüberschuß zusammenhing. Ich hatte ihnen kein Kalium zugesetzt.«
»Eben«, sagte ich. »Wer hat bei den vier Operationen die Infusionsbeutel geholt, und wer hat sie gewechselt, wenn sie leer waren?« Er wußte, daß ich die wahrscheinliche Antwort kannte, aber ich fragte trotzdem.
Nach einem Augenblick sagte er: »Scott.«
»Immer Scott?«
Er durchforstete sein Gedächtnis. »Oliver hat einmal assistiert. Bei der Kehlkopfoperation wollte er dabeisein. Er nahm Scotts Stelle ein. Es kann nicht Scott gewesen sein, der sie umgebracht hat.«
»Mhm ...« Ich grübelte. »Wieviel Kalium würde man brauchen?«
»Das ist nicht so einfach. Man müßte die Serumkonzentration steigern auf etwa acht bis zehn Äquivalenteinheiten pro Liter -«
»Ken!«
»Hm ... tja, normalerweise haben wir eine
Konzentration von vielleicht vier Äquivalenteinheiten pro Liter oder so, die müßte man also mehr als verdoppeln.