Um bei einem Pferd von tausend Pfund Gewicht den Wert von vier auf sechs zu erhöhen, brauchte man, ehm ... Moment . « Er zog einen Taschenrechner hervor und rechnete. »Dreiundzwanzig Komma sechs acht Gramm Kalium in Pulverform. Die löst man in Wasser auf und gibt sie zu der Flüssigkeit hinzu. Nach zwei Durchgängen, also nach zwei Beuteln, ist die Serumkonzentration auf acht erhöht. Mit einem dritten Beutel wäre es dann geschafft. Die Operation wäre mittlerweile weit fortgeschritten, so daß es aussähe, als hätte die lange Narkose den Zusammenbruch mit herbeigeführt.«
Er stand unwillkürlich auf und fing an, im Kreis um den Tisch herumzugehen.
»Ich hätte es merken müssen«, wiederholte er. »Hätten wir unsere hauseigene Mischung benutzt, würde ich sie auf Mängel untersucht haben, aber sie kam ja direkt vom Werk, und die hätten niemals einen so groben Fehler gemacht.«
Ich dachte an all die Beutel mit handelsüblicher, gebrauchsfertiger Infusionslösung, die in Kisten im Lagerraum der Klinik gestapelt waren, 1-Liter- und 5-Liter-Beutel. Für die Operation der Stute hatte Ken mindestens vier 5-Liter-Beutel gebraucht: Pferde in Schock- und Schmerzzuständen, Pferde mit komplizierten Koliken mußten große Mengen Flüssigkeit bekommen, hatte er mir gesagt, damit ihr Blutvolumen erhalten blieb. Ich hatte gesehen, wie Scott die leeren Beutel automatisch durch volle ersetzt hatte.
»Sie haben der Stute eine Menge Flüssigkeit zugeführt, die offensichtlich in Ordnung war, da sie die Operation überlebt hat«, sagte ich. »Wie viele Beutel nehmen Sie gewöhnlich?«
Er schürzte die Lippen, und seine Antwort war wieder nicht ganz einfach. Vielleicht gibt es keine einfachen Antworten in der Tiermedizin.
»Bei einer Routineoperation an einem gesunden Rennpferd - wie dem lädierten Röhrbein - kommt die Flüssigkeitszufuhr auf drei bis fünf Milliliter pro Pfund Pferd pro Stunde, also auf etwa vier Liter stündlich. Die Stute hat fünfzehn Liter die Stunde bekommen.«
»Sie würden also bei Kolik-Notoperationen zu den 5-Liter-Beuteln und bei Röhrbeinen zu den 1-Liter-Beuteln greifen?«
»Mehr oder minder.« Er überlegte. »Wohlgemerkt«, sagte er, »man könnte ein Pferd wahrscheinlich auch dadurch umbringen, daß man ihm zuwenig Flüssigkeit zuführt, oder zuviel. Vierzig Liter die Stunde von der normalen im Handel erhältlichen Lösung würden wohl zum Tod führen.«
Die todbringenden Möglichkeiten waren endlos, wie es schien.
»Also gut«, sagte ich. »Sie glauben, es war zuviel Kalium in den Infusionsbeuteln. Wie ist es da hineingekommen? Wie ist es gerade für diese vier Pferde da hingekommen und für sonst keine?«
Er sah verständnislos drein. »Scott kann es nicht gewesen sein. Das glaub ich nicht.«
»In der Nacht, als die Stute operiert wurde«, sagte ich, »kam Scott in die Klinik, während Sie noch unterwegs waren, und ich sah, wie er die Beutel aus dem Lager holte, und half ihm, sie in die Apotheke hinüberzubringen. Er hat sie dort auf dem Regal gestapelt, das man vom OP aus erreichen kann, wenn man die Glastür öffnet.«
»Ja.«
»Hat er die Beutel nach irgendeinem Schema hinüber-geschafft?«
»Ja. Immer der Reihe nach, wie sie gestapelt waren. Immer die vordersten oder die obersten.«
»Wollte man also Kalium zusetzen, dann konnte man das im Lagerraum machen, da man wußte, welche Beutel als nächstes benutzt würden.«
Ken sagte erleichtert: »Dann könnte es jeder gewesen sein, nicht nur Scott.«
Es konnte jeder gewesen sein, überlegte ich, der die Möglichkeit hatte, im Lagerraum ein und aus zu gehen, ohne daß es auffiel. Das galt für alle Partner der Gemeinschaft, für Scott, Belinda, für die Pflegerin, die im Streit gegangen war, und sehr wahrscheinlich auch für die Sekretärinnen und die Putzkolonne. Im Lagerraum hätte man sich nicht mit Kitteln, Überschuhen und Desinfizieren aufhalten müssen. Die klare Flüssigkeit in den Plastikbehältern selbst war steril, und das genügte.
»Ich denke, wir sollten mit Kommissar Ramsey reden«, sagte ich.
Ken schnitt ein Gesicht, erhob aber keine Einwände, als ich telefonierte und den Vorschlag des Kriminalbeamten, sich am späten Vormittag im Büro der Klinik mit uns zu treffen, dankend annahm.
Ramsey, der bäuerliche Typ, hörte sich geduldig die Theorie vom Tod der Pferde und von der Rolle, die Scott dabei gespielt hatte, an. Er kam mit uns in den Lagerraum, um zu sehen, wie die Infusionsbeutel gestapelt waren, so daß immer der vornan liegende als nächster benutzt wurde. Er las den Aufdruck auf der Kunststoffhülle: Zusammensetzung und Hersteller.
Er folgte uns in den kleinen Apothekenbereich, wo die Beutel in das Regal gelegt wurden, und er kam mit in den OP und sah, wie man sie bei Bedarf herausnehmen konnte, indem man die Glastür öffnete.
Niemand sprach direkt die Möglichkeit an, daß Scott entdeckt haben könnte, wer die Beutel präpariert hatte; es bedurfte kaum der Erwähnung.
»Die Pferde sind lange tot«, sagte Ramsey nachdenklich, wieder zurück im Büro. »Die letzten Blutproben sind vor der Auswertung verbrannt. Die leeren Infusionsbeutel sind weggeworfen worden. Ihre Theorie läßt sich nicht beweisen.« Er sah uns nacheinander grübelnd an. »Was wissen Sie sonst noch, wovon Sie nicht wissen, daß Sie es wissen?«
»Das Rätsel der Sphinx«, sagte ich.
»Wie bitte?«
»Pardon. Es hat sich angehört wie ein Rätsel.«
»Ein Rätsel in einem Gaukelspiel in einem Labyrinth«, sagte er unerwartet. »Polizeiarbeit ist oft so.« Er ergriff den Briefumschlag mit den Rechnungen. »Das war keine schlechte Idee. Geben Sie mir die anderen Antwortbriefe auch, wenn sie kommen.«
Wir versprachen es, und ich fragte ihn, ob er wisse, woran Scott gestorben sei. Und ob er wisse, wer in dem Feuer verbrannt sei.
»Unsere Ermittlungen«, sagte er, »sind im Gange.«
Ich besuchte Nagrebb.
Ken mochte nicht mitkommen, aber ich wollte - und sei es nur aus Neugier - den Mann sehen, der mit größter Wahrscheinlichkeit auf brutale Weise zwei Pferde umgebracht hatte, eines durch Hufrehe, das andere durch die Zerstörung einer Sehne. Ihn und Wynn Lees hatte es nicht gekümmert, ob ihre Pferde unter Qualen starben. Ich hatte die Stute von Wynn Lees leiden sehen, wie ich es bei einem Pferd nicht für möglich gehalten hätte, und daß sie
gestorben war, hatte mich mit Bitterkeit und Trauer erfüllt.
Ich konnte nicht nachweisen, daß ihr Besitzer ihr eine Teppichnadel zu fressen gegeben hatte. Ich konnte nicht nachweisen, daß er seinem Eaglewood-Pferd Insulin gespritzt hatte. Ich glaubte, daß es so war, und empfand eine so starke Abneigung gegen ihn, daß ich nie wieder in seine Nähe kommen wollte.
Nagrebb weckte in mir auf Anhieb das gleiche Gefühl.
Ich hatte ihn mir dick, bullig und dumm wie Wynn Lees vorgestellt, deshalb war seine äußere Erscheinung eine Überraschung.
Er war draußen auf der Koppel hinter seinem Haus, als ich, von Kens unwilliger Wegbeschreibung geleitet, seine halb versteckten hölzernen Torpfosten entdeckte und auf eine Zufahrt bog, die sich um das Haus ringelte, bis sie von der Straße aus nicht mehr zu sehen war.
Die Koppel, die dann in Sicht kam, war mit ehemals weißen Querlatten umzäunt, ein verlockender Fluchtweg, wie mir schien, für jedes selbstbewußte, mißhandelte Springpferd. Auf der abgenutzten Weide standen ein Mann und eine Frau mit kastanienbraunen Haaren neben einem knallrot und weißen Hindernis, einem Stück imitierter Ziegelmauer, und forderten einen anderen Mann auf einem dunklen muskulösen Pferd auf, es zu überspringen. Das Pferd brach seitlich aus, um den Sprung zu vermeiden, und wurde mit ein paar heftigen Peitschenhieben ermahnt, das nicht noch mal zu tun.
In diesem Moment bemerkten sie alle drei meine Ankunft und machten zur Begrüßung nur finstere Gesichter, ein Mienenspiel, das für sie so normal zu sein schien wie das Gehen.