Fred war eindringlich und ernst, geradezu christlich in seinem Eifer, Gutes zu tun, oder vielmehr in seinem Eifer, mich Gutes tun zu lassen. Ich mußte an den Slogan auf einem T-Shirt denken, das ich einmal besessen hatte: »Streß entsteht, wenn dein Bauch NEIN sagt und dein Mund JA, GERN«; und Fred fragte mich, was es zu lächeln gebe.
»Nichts eigentlich.«
»Sie warten also noch einen Tag?«
»Also gut.«
»Fein. Fein. Wußte ich doch, daß Sie das tun würden. Ich hab’s den beiden zugesichert. Sie werden einsehen, daß die heute abend nicht reisen können.«
Wir waren gerade in seinem Büro, auf dem Konsulat in Miami, am Tag nach dem Überfall. Die Nacht war ohne räuberische Übergriffe verlaufen, doch es war ein sehr erschöpftes Paar, das am Morgen dann in Bademänteln in der Küche herumhantierte, um das bitter nötige Frühstück auf den Tisch zu bringen. Vickys Ohr schmerzte, Gregs Stirn hatte eine dunkelblaue Beule, und beide waren deprimiert.
»Meine ganzen Kreditkarten . «, sagte Greg müde. »Jetzt ist so viel zu tun.« Er griff zum Telefon und gab die schlechte Nachricht an die Institute weiter.
Ich dachte an meine Koffer, die herrenlos in meinem unbenutzten Zimmer standen, und rief das Hotel an: Überhaupt kein Problem, sagten sie, ich könne das Gepäck später abholen, würde für die vergangene Nacht aber bezahlen müssen. Selbstverständlich, stimmte ich zu.
Als sie angezogen waren, fuhr ich mit Vicky und Greg bei Fred vorbei und weiter zu dem Termin bei der Polizei, eine Angelegenheit, die das noch verbliebene Durchhaltevermögen der Wayfields arg strapazierte. Der einzige Lichtblick war, daß Vicky ihren Ohrring zurückerhielt, auch wenn sie annahm, es würde noch lange dauern, bis sie ihn wieder tragen konnte.
»Ich möchte nicht andauernd an gestern abend denken«, sagte sie heftig während der Vernehmung, doch der freundliche Polizist bohrte trotzdem freundlich weiter. Schließlich durften wir alle vier gehen, und Fred fuhr dem BMW durch die Stadt voraus zu seinem Amtssitz.
Das Konsulat entpuppte sich als eine bescheidene Bürosuite weit oben in einem gläsernen Hochhaus. Britische Firmen und Urlaubsreisende hatten auf der Gründung eines Konsulats in Miami bestanden, doch um es zu finanzieren, hatte sein Gegenstück an einem anderen Ort, wo der Touristenstrom versiegt war, geschlossen werden müssen.
Im 21. Stock angekommen, drängten wir uns durch hohe, schmale Türen in ein kleines Vorzimmer, in dem bereits eine entrüstete Familie wartete, die in Disneyworld beklaut worden war, sowie ein Mann in einem Rollstuhl, den die Polizei allein und verwirrt auf der Straße aufgegriffen und hier abgeliefert hatte, da er nicht wußte, wo er in Florida wohnte, und immer wieder eine englische Adresse vor sich hin murmelte.
Zwei gutaussehende junge Frauen hinter einer gläsernen Trennwand, die das alles zu klären versuchten, zeigten sich über Freds Auftauchen erleichtert.
»Panzerglas natürlich«, sagte Fred zu mir und bedeutete den Mädchen, uns die elektronische Tür zu öffnen. »Machen Sie weiter«, sagte er zu ihnen, und mir schien, sie taten das sehr kompetent.
Der verfügbare Raum hinter der Antiterrortür war geschickt unterteilt, so daß alle Ressorts des Botschaftsbetriebes ihren Platz hatten, wenn auch im kleinen. Archiv, Coderaum, Konferenzraum, Einzelbüros, große geschäftige Schreibstube, Küche und ein geräumigeres Büro mit vorzüglicher Aussicht für den Chef. Diese zweckmäßige Einrichtung, sagte Fred, wurde von ihm selbst, den beiden Supersekretärinnen und zwei Vizekonsuln geleitet, von denen einer für den Handel und der andere (momentan dienstlich unterwegs) für heikle Bereiche wie Drogenschmuggel zuständig war.
Fred setzte Greg und Vicky in den Konferenzraum, der gerade groß genug war für einen runden Tisch mit Eßzimmerstühlen drum herum, winkte mich dann in sein Privatgemach und schloß die Tür.
»Sie werden heute nicht fahren können«, sagte er. »Sie« war inzwischen ein Kürzel für Greg und Vicky. »Die Flugscheine gehen klar, aber ihr Paß dauert, und sie muß noch mal ins Krankenhaus und hat erst halb gepackt, sagt sie.«
»Und sie brauchen neue Schlösser für ihr Haus«, stimmte ich zu.
»Sie können doch also noch einen Tag bleiben und ihnen helfen, nicht wahr?«
Ich öffnete den Mund und schloß ihn wieder, und darauf hatte Fred seine ganze Überredungskunst aufgebaut.
Fred und ich waren als Diplomaten ranggleich -Konsuln und Legationsräte 1. Klasse entsprachen (wenn man zum Vergleich die Armee heranzog) beide in etwa dem Obersten.
Wie in der Armee war der nächste Schritt nach oben erst der große. Legationsräte und Konsuln waren reichlich vorhanden, aber Botschaftsräte, Generalkonsuln und Gesandte standen näher an der Spitze der Pyramide: Es gab mindestens sechshundert Konsuln und wahrscheinlich noch mehr Legationsräte 1. Klasse rund um die Welt, jedoch nur etwa einhundertfünfzig Botschafter.
Fred blickte von seinem Fenster hinaus auf das weite, atemberaubende Panorama mit den Palmen, dem funkelnden Meer und den Wolkenkratzern des Zentrums von Miami und sagte mir, er sei noch nie so glücklich gewesen.
»Das freut mich, Fred«, sagte ich und meinte es auch.
Er drehte sich mit einem bitter selbstironischen Lächeln um, körperlich dick und schlaff, im Kopf aber so wendig wie ein Akrobat.
»Wir wissen doch beide, daß Sie es weiterbringen werden als ich«, sagte er.
Ich machte eine abwehrende Geste, die er unbeachtet ließ.
»Aber hier«, fuhr er fort, »bin ich zum allerersten Mal der Chef. Das ist ein tolles Gefühl. Großartig. Das wollte ich Ihnen nur sagen. Es gibt nicht viele, denen ich das sagen kann. Die meisten würden es nicht verstehen. Sie schon, nicht wahr?«
Ich nickte langsam. »So richtig am Ruder war ich eigentlich noch nie, höchstens ab und zu mal einen Tag. Irgendwem ist man immer unterstellt.«
»Das hier ist viel besser.« Er grinste und sah beinah jungenhaft aus. »Denken Sie mal an mich, wenn Sie in Whitehall herumscharwenzeln.«
Ich dachte an ihn, als ich mit Greg und Vicky, die auf der anderen Seite des Gangs schliefen, in dem Jumbo saß. Wahrscheinlich hatte ich ihn in den letzten Tagen besser kennengelernt als während der ganzen Zeit in Tokio, und auf jeden Fall mochte ich ihn jetzt lieber. Daß er sein eigener Herr war, hatte offenbar die Grundzüge seines Charakters stärker hervortreten lassen und viele nervöse Eigenarten zum Verschwinden gebracht, und eines Tages blieb vielleicht sogar die schweißige Stirn trocken.
Irgendwie hatte er mich nicht nur dazu überredet, mit seinen unglücklichen Bekannten nach England zu reisen, sondern sie auch noch wohlbehalten bei ihrer Tochter in Gloucestershire abzuliefern. Ich wußte, daß meine Antwort vielleicht anders ausgefallen wäre, wenn sie etwa nach Northumberland gewollt hätten, doch die Aussicht, an den Ort meiner Kindheit zurückzukehren, hatte mich neugierig gemacht. Ich hatte noch zwei Wochen frei und nichts Bestimmtes vor in dieser Zeit, außer mir in London eine Wohnung zu suchen. Also erst mal nach Gloucestershire - warum nicht?
Als wir am Morgen in Heathrow ankamen, mietete ich einen Wagen und fuhr die schrecklich dankbaren Wayfields nach Westen, allgemeine Richtung Cheltenham und Rennbahn, denn Vicky hatte gesagt, ihre Tochter wohne ganz in der Nähe der Bahn.
Da Vicky noch nie dort gewesen war und meine Erinnerungen recht verschwommen waren, hielt ich ein paarmal an, um die Karte zu studieren, die wir zusammen mit dem Wagen bekommen hatten. Wir erreichten die
Außenbezirke von Cheltenham gegen Mittag, ohne uns zu verfahren, und hielten an einer Tankstelle, um noch ein letztes Mal nach dem Weg zu fragen.
»Die Tierärzte? Rechts ab, an der Feuerwache vorbei ...«
Die Straße verlief durch ein unruhiges architektonisches Allerlei, Alter und Patina waren von knallbunten Ladenfronten und modernisierten Pubs in den Schatten gedrängt. Weniger ein Dorf, mehr ein Vorort: kein einheitlicher Charakter.