Er stand wieder auf und ging mit mir hinaus auf den Parkplatz, nachdem er sorgfältig die Türen hinter sich abgeschlossen hatte. Er wirkte eher onkelhaft gemütlich als bedrohlich, aber andererseits konnten auch Bären kuschelig aussehen. Es war möglich, daß er mir zuhörte und im stillen dabei dachte, Ken habe die Pferde selbst getötet. Ken hatte sich zunächst ja auch gesträubt, wenn nicht sogar davor gefürchtet, mir zu sagen, wie man Pferde töten kann, weil solche Kenntnisse sich zu seinen Ungunsten auslegen ließen.
»Ich höre morgen von Ihnen«, sagte Ramsey mit einem Nicken und stieg in sein Auto.
»In Ordnung.«
Er wartete, bis ich meinen Wagen angelassen hatte und zum Ausgang gefahren war, fast als wollte er mich hinausbugsieren. Er hätte keine Angst zu haben brauchen, daß ich umkehren würde. Wenn ich Vollgas gab, kam ich gerade noch bis um sechs in die Fulham Road.
Annabel, einigermaßen konventionell heute mit silbernen Cowboystiefeln und einem glatten schwarzen Kleid, machte ihre Tür auf und sah lachend auf ihre Armbanduhr.
»Zehn Sekunden zu spät.«
»Bitte untertänigst um Entschuldigung«, sagte ich.
»Gebongt. Wo fahren wir hin?«
»Sie sind die Londonerin. Entscheiden Sie.«
Sie entschied sich für einen Abenteuerfilm und für ein Abendessen in einem Bistro. Der Held des Films wurde sechsmal in die Magengegend geboxt und stand lächelnd wieder auf.
In dem Bistro gab es Kerzen in Chiantiflaschen, rotkarierte Tischtücher und einen Zigeunersänger mit einer Blume hinterm Ohr. Ich erzählte Annabel von Vickys und Gregs Gesang. Altmodisch, aber vorzügliche Stimmen. Sie würde sie gern mal hören, sagte sie.
»Kommen Sie Sonntag vorbei«, sagte ich spontan.
»Sonntags besuche ich den Bischof und seine Frau.«
»Oh.«
Sie sah auf ihre Spaghetti nieder, das Kerzenlicht auf ihrem elastischen Stoppelhaar, die Augen im Schatten, nachdenklich.
»Die Sonntage mit ihnen lasse ich nur aus, wenn es wichtig ist«, sagte sie.
»Es ist wichtig.«
Sie hob die Augen. Ich konnte die Kerzenflammen darin sehen.
»Sagen Sie das nicht leichthin«, sagte sie.
»Es ist wichtig«, wiederholte ich.
Sie lächelte kurz. »Ich komme mit der Bahn.«
»Zum Mittagessen in einem Landgasthof?«
Sie nickte.
»Und Sie bleiben bis zum Abend, und ich fahre Sie nach Hause.«
»Ich kann mit der Bahn zurückfahren.«
»Nein. Nicht allein.« »Sie sind genauso schlimm wie mein Vater. Ich kann selbst auf mich aufpassen, damit Sie das wissen.«
»Trotzdem fahre ich Sie.«
Sie lächelte auf ihre Spaghetti hinunter. »Der Bischof wird Ihnen trotz Ihres Berufs seinen Segen geben müssen.«
»Mir bangt davor, ihn kennenzulernen.«
Sie nickte, als wäre das Bangen selbstverständlich, und fragte, wie sich die Dinge in der Praxis entwickelten. »Mir geht dieser arme Scott nicht aus dem Sinn.«
Ich erzählte ihr von den Auskünften der Pharma-produzenten, die sie abwechselnd faszinierten und erschreckten. Ich erzählte ihr, daß die Tierärzte, seit Carey die Partnerschaft aufgelöst hatte, alle herumsausten wie kopflose Hühner, weil sie sich zwar noch um kranke Tiere kümmerten, ihnen aber die zentrale Organisation fehlte.
»Kann man denn eine Partnerschaft einfach so auflösen?«
»Weiß der Himmel. Die Rechtslage sieht verwickelt aus. Carey kann nicht mehr und möchte raus. Die Hälfte von den andern will ihn auch raushaben. Sie tilgen gemeinsam die Hypothek auf die Klinik, die gegenwärtig geschlossen ist. Gott helfe Ken, wenn da mitten in der Nacht ein Notfall kommt.«
»Was für ein Schlamassel.«
»Ja. Aber doch weit weg vom Hier und Jetzt.«
»Mhm.«
»Und darum ... ehm, hat der Bischof sonst noch Töchter und Söhne?«
»Je zwei.«
»Donnerwetter.«
»Sie sind Einzelkind, nehme ich an«, sagte sie.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Sie brauchen keine Wurzeln.«
So hatte ich mein Nomadendasein noch nie gesehen, aber vielleicht war es das Alleinsein, das es mir so leicht machte, dahin zu gehen, wohin ich geschickt wurde.
»Wie stark sind Ihre Wurzeln?« fragte ich.
»Ich habe nie versucht, sie auszureißen.«
Wir schauten uns an.
»Ich werde vier Jahre in England sein«, sagte ich. »Danach alle zwei Jahre für ungefähr einen Monat. Wenn ich sechzig werde, kann ich ganz hierbleiben. Die meisten Diplomaten kaufen sich irgendwann zwischendurch hier ein Haus. Meine Eltern haben eins, aber da kann ich jetzt nicht wohnen, weil es an eine Firma vermietet ist. Wenn mein Vater sich in vier Jahren zur Ruhe setzt und der Mietvertrag ausläuft, werden sie für immer herkommen.«
Sie hörte aufmerksam zu.
»Das Auswärtige Amt kommt dafür auf, daß Kinder von im Ausland tätigen Diplomaten zu Hause ein Internat besuchen können.«
»Haben Sie das auch gemacht?«
»Nur die letzten beiden Schuljahre.« Ich erklärte die Geschichte mit dem Erlernen von Sprachen, bevor man zwanzig war. »Außerdem wollte ich bei meinen Eltern bleiben. Ich mag sie, und es ist ein sehr vielseitiges Leben.«
Ein Berufsprofil, dachte ich, war schon eine merkwürdige Art, ihr mitzuteilen, daß mich ihre Zukunft mehr als gemeinhin üblich interessierte. Sie schien das unschwer zu verstehen. Klar war auch, daß ein lustvolles, besinnungsloses Ausleben sexueller Anziehung, ohne Rücksicht auf die Folgen, hier nicht in Frage kam. Annabel wollte erst festen Halt.
Ich fuhr sie nach Hause und küßte sie wieder zum Abschied. Diesmal dauerte der Kuß länger und war eine prickelnde Angelegenheit, die besinnungslosen Sex absolut wünschenswert erscheinen ließ. Ich lächelte in mich hinein und sah sie an, und sie sagte, sie werde den letzten Zug nehmen, der am Sonntag vormittag in Cheltenham ankomme.
Samstag früh traf endlich der Brief von Parkway Chemicals ein, für mich ein einziger Buchstabensalat. Während ich auf Ken wartete, las ich die wenigen verständlichen Informationen, die den Rechnungen zu entnehmen waren.
Die Parkway Chemical Company verkaufte Wirkstoffe aus der organischen Biochemie an die Forschung und auch diagnostische Reagenzien. Die Firma, von der das Insulin und die Kollagenase gekommen waren, hatte ähnliche Angaben im Briefkopf gehabt. Parkway-Präparate konnten per Fax und gebührenfrei per Telefon bestellt werden.
Ich las die wenigen normalen Rechnungen durch, doch die einzige angeforderte Substanz, die ich kannte, war Fibrinogen, ein Mittel zur Blutgerinnung.
Der Lieferschein, den Scott bekommen hatte, war mit Warnungen übersät.
»Hochgefährliches Material.«
»Nur von geschultem Personal zu verwenden.«
»Nur für den Laborgebrauch.«
»Per Boten.«
Scott hatte den Empfang mit seinem Namenszug quittiert.
Der Wirbel drehte sich offenbar um drei kleine Ampullen mit etwas, was sich Tetrodotoxin nannte.
Als Ken das sah, sagte er gleich: »Alles, was die Endung >toxin< hat, ist giftig.« Mit gerunzelter Stirn las er die Einzelheiten vor: »Drei Ampullen a 1 mg Tetrodotoxin mit Natriumzitrat als Puffer. Wasserlöslich. Packungsbeilage beachten.«
»Was ist das?« fragte ich.
»Muß ich nachsehen.«
Die Eigentümer von Thetford Cottage waren zwar keine Büchernarren, besaßen aber doch eine Reihe von Nachschlagewerken und eine kleine Enzyklopädie. Ken und ich suchten vergeblich nach Tetrodotoxin. Das nächste, was das Lexikon zu bieten hatte, war »Tetrode«, eine Elektronenröhre mit vier Elektroden, und das paßte wohl nicht so ganz.
»Am besten hole ich mal zu Hause meine Giftbücher«, sagte Ken.
»Okay.«
Wo ich das Lexikon schon in den Händen hielt, sah ich auf gut Glück unter Kugelfisch nach. Die Eintragung lautete: »Kugelfisch, verschiedene Arten, lebt in