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»Das sind eine Menge Vielleichts«, bemerkte Ramsey, »womit ich nicht sagen will, daß Sie unrecht haben.«

Wirf die Steine in die Luft, dachte ich, und sie kullern alle durcheinander.

Ramsey komplimentierte uns wieder hinaus und schloß die Türen ab, obschon Ken vermutlich seine Schlüssel in der Tasche hatte und uns gleich wieder hineinlassen konnte, wenn er wollte. Ken schien die Klinik jedoch bedrückend zu finden und war froh, von dort wegzukommen. Wir blieben auf dem Parkplatz bei unseren Wagen stehen, und Ken sagte: »Wie geht’s jetzt weiter?«

Weiter ging es mit einer dieser eigentümlichen, jäh aufblitzenden Erinnerungen an früher, die meistens quälend unvollständig waren, manchmal aber auch gestochen scharf. Vielleicht mußten erst viele Fäden zusammenlaufen, bevor die richtige Synapse zündete. Ich erinnerte mich an meinen bedrohlichen nächtlichen Traum, und im selben Moment wußte ich wieder, daß ich meine Mutter schon einmal mehr hatte sagen hören als das, was sie mir am Telefon erzählt hatte.

»Hm«, sagte ich aufgeregt, »wie wär’s, wenn wir Josephine besuchten?«

»Aber wozu denn?«

»Um über Ihren Vater zu sprechen.«

»Nein«, protestierte er, »das können Sie nicht machen.«

»Ich glaube, wir müssen«, sagte ich und erklärte ihm andeutungsweise, was ich damit im Sinn hatte.

Er sah verwirrt drein, fuhr aber in seinem Wagen zu Josephine voran, während ich ihm folgte.

Sie bewohnte die zwei oberen Stockwerke eines stattlichen edwardianischen Gebäudes in einer eleganten, im Halbkreis angeordneten Häuserreihe in Cheltenham. Die Fenstertüren ihres Wohnzimmers gingen auf einen schmiedeeisernen Balkon mit Blick auf den winterlichen Park hinaus. Es hätte hinreißend sein können, doch Josephines Einrichtung war steif und einfallslos, als stünde jedes Möbel seit Jahrzehnten, wo es stand.

Ken hatte uns telefonisch angekündigt, und sie freute sich durchaus über unseren Besuch. Wir hatten eine Flasche süßen Sherry mitgebracht, da Ken meinte, seine Mutter trinke ihn sehr gern, traue sich aber nicht, selbst welchen zu kaufen. Widerstrebend angenommen, wurde das Mitbringsel dennoch gleich geöffnet. Ken schenkte seiner Mutter ein großes Glas voll und bedachte sich und mich nicht ganz so reichlich. Beim ersten Schluck verzog er das Gesicht, aber ich konnte mittlerweile alles trinken, ohne Abneigung zu zeigen.

Achte nicht darauf, was du eigentlich in den Mund steckst, hatte mein Vater mir nützlicherweise geraten. Wenn du weißt, es ist ein Schafsauge, wird dir bloß schlecht. Stell dir vor, es sei eine Weintraube. Konzentrier dich auf den Geschmack, nicht auf die Quelle. Ja, Papa, hatte ich gesagt.

Josephine trug einen grauen Rock, eine steife cremefarbene Bluse und eine schlickgrüne Strickjacke. Auf einem Couchtisch war ein silbern gerahmtes Foto, das sie jung, hübsch, lächelnd zeigte. Neben ihr auf dem Foto stand eine Variante des Ken, den ich kannte: der gleiche längliche Kopf, das lange Gestell, das blonde Haar. Kennys Konterfei lächelte glücklich: Ken lächelte selten.

Wir setzten uns. Josephine drückte die Knie zusammen: um Lüstlinge abzuwehren, vermutete ich.

Der Anfang war harzig. »War Kens Vater ein guter Sportler?« fragte ich.

»Wie meinen Sie das?«

»Ehm ... hat er gern geangelt? Mein Vater angelt die ganze Zeit.« Mein Vater wäre erstaunt gewesen, das zu hören, dachte ich.

»Nein, er hat nicht gern geangelt«, sagte Josephine und zog die Brauen hoch. »Wieso fragen Sie?«

»Ging er auf die Jagd?« fragte ich.

Sie machte ein prustendes Geräusch und verschluckte sich halb an dem Sherry.

»Hör bitte zu, Mutter«, sagte Ken überredend. »Wir haben eigentlich nie erfahren, warum Pa sich umgebracht hat. Peter hat eine Theorie.«

»Die will ich nicht hören.«

»Doch, ich glaube schon.«

Ich fragte: »Hat er gejagt?«

Josephine sah Ken an. Er nickte ihr aufmunternd zu. »Erzähl es ihm«, sagte er.

Sie trank einen Schluck Sherry. Wenn sie erst einmal angefangen hatte zu reden, würde sie nichts mehr zurückhalten, dachte ich in Erinnerung an das Öffnen der Schleusentore des Klatsches bei dem Mittagessen in Thetford Cottage. Und so kam es dann auch.

»Kenny«, sagte sie, »ist immer mit der Meute auf Fasanenjagd gegangen.«

»Was für eine Meute?«

»Ach, Sie wissen schon. Farmer und so. Mac Mackintosh. Rolls Eaglewood. Ronnie Upjohn. Diese Leute eben.«

»Wie viele Gewehre hatte Kenny?«

»Nur das eine.« Sie schauderte. »Ich denk nicht gern daran.«

»Ich weiß«, sagte ich beschwichtigend. »Wo war er, als er sich erschossen hat?«

»Ogottogott.«

»Sag es ihm«, sagte Ken.

Sie schluckte den Sherry hinunter wie ein Lebenselixier. Ken schenkte ihr nach.

Wenn meine Erinnerung nicht trog, dann kannte ich die Antwort, aber Ken zuliebe mußte sie von seiner Mutter kommen.

»Du hast mir nie erzählt, wo er gestorben ist«, sagte Ken.

»Keiner wollte mit mir über ihn reden. Ich sei zu jung, meinten alle. In letzter Zeit, jetzt wo ich in dem Alter bin, in dem er gestorben ist, interessiert mich das mehr denn je. Es hat lange gedauert, aber ich habe mich damit abgefunden, daß er sich umgebracht hat, und jetzt möchte ich auch wissen, wo und warum.«

»Ich bin mir nicht sicher, warum«, sagte sie unglücklich.

»Dann sag, wo.«

Sie schluckte.

»Na komm, Mama.«

Die Zuneigung in seinem Ton überwältigte sie. Tränen strömten ihr aus den Augen. Eine Zeitlang brachte sie kein Wort heraus, aber schließlich, nach und nach, sagte sie es ihm.

»Er starb ... er stand im Bach ... als er sich erschossen hat ... an einer flachen Stelle ... ein Stück unterhalb vom Mühlrad ... bei den Mackintoshs.«

Die Enthüllung schockte Ken und bestätigte meine Ahnung. In der Erinnerung hörte ich deutlich die Stimme meiner weinenden Mutter, die, kurz nachdem sie es erfahren hatte, mit einer Besucherin sprach, während ich mich irgendwo versteckt hielt.

»Er ist in den Mühlbach gefallen, und sein Gehirn wurde weggeschwemmt.« Ich hatte diesen schauerlichen Satz in die Tiefkühlung verfrachtet, da er ein Bild enthielt, das zu schrecklich war, um ins Bewußtsein gerufen zu werden. Jetzt, wo er mir wieder eingefallen war, erstaunte mich die Verdrängung. Ich hätte gedacht, das sei genau der Horrorkram, für den kleine Jungen sich begeisterten. Vielleicht lag es daran, daß meine Mutter darüber geweint hatte.

»Wissen Sie«, fragte ich sanft, »ob sein Gewehr bei ihm im Bach lag?«

»Ist das wichtig? Es lag bei ihm, ja. Natürlich lag es bei ihm. Sonst hätte er sich doch nicht erschießen können.«

Sie setzte ihr Glas ab, stand unvermittelt auf und ging zu einem Mahagoni-Sekretär. Aus dem oberen Teil des Schreibschranks angelte sie einen Schlüssel, mit dem sie die unterste Schublade öffnete, und aus der untersten Schublade zog sie einen großen polierten Holzkasten hervor. Um ihn zu öffnen, war wieder ein Schlüssel nötig, aber schließlich kam sie mit dem Kasten herüber und stellte ihn auf den Tisch neben ihrem Sessel.

»Die Sachen habe ich mir seit kurz nach Kennys Tod nicht mehr angesehen«, sagte sie, »aber dir zuliebe, Ken, muß es jetzt vielleicht sein.«

Der Kasten enthielt Zeitungen, maschinegeschriebene Blätter und Briefe.

Die Briefe, obenauf, waren Beileidsbekundungen. Die Meute, wie Josephine sie nannte, war ihrer Pflicht mit Wärme nachgekommen: Sie hatten Kenny offensichtlich gemocht. Mackintosh, Eaglewood, Upjohn, Fitzwalter - eine Überraschung, das - und viele Kondolenzschreiben von Kunden, Freunden und Tierarztkollegen. Ich blätterte sie durch. Kein Brief von Wynn Lees, soweit ich sehen konnte.

Als ich fast fertig war, setzte mein Herz einen Schlag lang aus. Da lag ein kurzer Brief in der regelmäßigen Handschrift meiner Mutter.

Meine liebe Josephine,