es tut mir entsetzlich leid. Kenny war immer ein guter Freund, und er wird uns auf der Rennbahn sehr fehlen. Wenn ich irgend etwas tun kann, lassen Sie es mich bitte wissen. Mit der innigsten Teilnahme
Margaret Perry
Meine arme junge Mutter hatte, auch wenn sie vor Kummer weinte, tadellose Manieren gehabt. Ich legte ihren Brief von damals zu den anderen und versuchte mir keine Bewegung anmerken zu lassen.
Als ich mich den Zeitungsberichten zuwandte, stellte ich fest, daß sie in Abstufungen sachlich bis reißerisch waren und weitgehend die gleichen Fotos von dem Verstorbenen zeigten. »Beliebt«, »geachtet«, »ein großer Verlust für die Gemeinde«. Urteil bei der amtlichen Totenschau: »Keine ausreichenden Beweise dafür, daß er vorhatte, sich das Leben zu nehmen.« Kein Abschiedsbrief. Zweifel und Fragen. »Wenn er sich nicht umbringen wollte, wieso hat er sich dann mit Schuhen und Strümpfen mitten im Januar in einen Bach gestellt?«
»Typisch Kenny, immer rücksichtsvoll, so brauchten andere hinterher keinen Dreck wegzumachen.«
»Ich kann das einfach nicht lesen«, sagte Josephine bedrückt.
»Ich dachte, ich hätte ihm verziehen, aber es stimmt nicht. Diese Schande! Das kann sich keiner vorstellen. Witwe zu sein ist schwer genug, aber wenn dein Mann sich umbringt, ist das die totale Zurückweisung, und alle glauben, du bist schuld.«
»Es war aber doch ein offenes Urteil«, sagte ich. »So steht’s auch in den Zeitungen.«
»Das ist gleich.«
»Ich dachte, es gab da Theater wegen eines Medikaments, das er nicht hätte bestellen sollen«, sagte ich. »Davon steht hier nichts.«
»Doch«, sagte Ken schwach. Er hatte mit offenem Mund eine der maschinegeschriebenen Seiten gelesen. »Sie werden es nicht für möglich halten. Und wer in aller Welt hat Ihnen das erzählt?«
»Weiß ich nicht mehr«, sagte ich ausweichend.
Er gab mir die Blätter, blaß und niedergeschmettert. »Ich verstehe das nicht.«
Ich las, was er mir zeigte. Es schien ein Gutachten zu sein, aber ohne Briefkopf und ohne Unterschrift. Es war erschreckend, es war eine Offenbarung, und in gewisser Weise war es unvermeidlich.
In nüchternen Worten stand da:
Kenneth McClure hatte kurz vor seinem Tod, angeblich zu Forschungszwecken, einen kleinen Vorrat des organischen Präparats Tetrodotoxin angefordert und erhalten. Bald darauf starb ein von ihm behandeltes Pferd plötzlich ohne erkennbare Ursache, wie dies auch bei einer Tetrodotoxinvergiftung der Fall gewesen wäre. Ohne ihm unterstellen zu wollen, daß er selbst diese äußerst gefährliche Substanz verabreicht hat, bleibt doch zu überlegen, ob der Erwerb oder die Weitergabe dieser Substanz sein Gewissen so stark belastet haben könnte, daß er deshalb Selbstmord begangen hat. Da wir darüber nichts wissen können, schlage ich vor, diese mögliche Erklärung, die wohl nur Unruhe stiften würde, zurückzuhalten.
Mit zitternder Stimme fragte Ken seine Mutter: »Weißt du etwas von diesem Tetrodotoxin?«
»Hieß das so?« fragte sie geistesabwesend zurück. »Es gab einen fürchterlichen Aufruhr deswegen, aber ich wollte nichts davon hören. Ich wollte nicht, daß alle wußten, daß Kenny unrecht getan hatte. Es war so schon schlimm genug, versteht ihr?«
Mir zumindest war jetzt klar, daß irgendwo in der alten Meute das Wissen von Tetrodotoxin und seiner tödlichen Wirkung all die Jahre über geschlummert hatte und daß irgend etwas - vielleicht die Porphyr-Park-Pleite - es in seiner ganzen Gefährlichkeit aktiviert hatte.
»Kenny!« hatte der alte Mackintosh fröhlich gesagt. »Haben Sie das Zeug mitgebracht?«
Kenny hatte, nahm ich an. Und dann hatte er es vermutlich bereut und sich erschossen - oder er hatte beschlossen zu plaudern und war zum Schweigen gebracht worden.
Scott, der Bote mit dem gestopften Mund. Travers, der Versicherungsagent, verbrannt bis auf die Zähne. Kenny, der Tierarzt, mit seinem Gehirn im Wasser und seinem Gewehr mit den weggewaschenen Fingerabdrücken. Tetrodotoxin war vielleicht für sie alle ein zu harter Brocken gewesen.
»O Gott«, sagte Ken unglücklich. »Deswegen also. Jetzt wünschte ich, ich wüßte es nicht.«
»Sie wissen, wo«, sagte ich, »aber nicht, ob.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, er hat keinen Brief hinterlassen. Die Frage ist also, hat er sich in dem Bach umgebracht, oder hat ihn jemand am Ufer erschossen, so daß er rückwärts ins Wasser gestürzt ist?« Mutter und Sohn waren entgeistert. »Wie hält man sich zum Beispiel ein Gewehr an den Kopf, wenn man knietief im Wasser steht? Man kommt nicht an den Abzug, außer man benutzt einen Stock. Ein aus nächster Nähe abgefeuertes Gewehr dagegen trifft mit einem furchtbaren Schlag, der einen ohne weiteres von den Beinen holt.«
Ken widersprach. »Das kann nicht sein. Warum hätte ihn jemand umbringen sollen?«
»Warum wurde Scott umgebracht?« fragte ich.
Er schwieg.
»Ich glaube ...«, Josephines Stimme bebte, »so entsetzlich es ist, ich würde mich nicht so furchtbar im Stich gelassen fühlen, wenn es nicht seine Schuld war. Wenn ihn einer umgebracht hat. Es ist so lange her ... aber wenn er umgebracht worden ist ... würde ich mich besser fühlen.«
Ken blickte drein, als könne er ihre Logik nicht nachvollziehen, aber ich wußte, es würde auch für meine eigene Mutter tröstlich sein.
Ken blieb bei Josephine, und ich verbrachte den Nachmittag damit, daß ich ziellos in der Landschaft herumfuhr und nachdachte. Eine Weile blieb ich auf Cleeve Hill oberhalb der Rennbahn von Cheltenham stehen und sah unter mir die weißen Rails, den grünen Rasen, den bergauf, bergab führenden Härtetest für Hindernispferde. Die Grand National war eine große, aufregende Lotterie, doch der Cheltenham Gold Cup brachte die wahren, die bleibenden Stars ans Licht.
Die Bahn, einst bis zum letzten Grashalm vertraut, hatte sich in ein fremdes Wesen verwandelt. Da waren riesige neue Zuschauertribünen, ein glattgewalztes, neu ausgerichtetes Geläuf, und der Führring hatte sich um hundertachtzig Grad gedreht und sich total verändert. Auf der einen Seite wurde ein ganzes Dorf aus gestreiften, mittelalterlich anmutenden Zelten errichtet, zweifellos für Sponsoren und geschlossene Gesellschaften bei dem großen Meeting, das in knapp zwei Wochen abgehalten werden sollte. Ein eigenartiges Gefühl würde es sein, dachte ich, wieder durch dieses Tor zu treten. Die Bahn von einst und das Kind von einst waren wie Echos im Wind. Doch auch das Hier und Jetzt, die neue Welt, würden einmal Schatten von gestern sein.
Ich fuhr weiter. Ich fuhr an dem häßlichen roten Auswurf von Porphyr-Park mit seinen tausend Schildern vorbei und in das hübsche alte Tewkesbury hinein. Ich hielt am Ufer der Severn und dachte an Kennys weggeschwemmtes Gehirn, und ich versuchte aus allem klug zu werden, was ich gesehen, was ich gehört und woran ich mich erinnert hatte, seit ich zurückgekommen war.
Die Überzeugung, die sich nach und nach dabei herausfilterte, schien mir die ganze Zeit schon vor Augen gestanden und gesagt zu haben: »Hier bin ich. Sieh mich an.« Allerdings war es mehr eine Theorie als etwas Handfestes, so daß ich es zwar allemal glauben, aber noch keinesfalls beweisen konnte. Der Vergleich der Fohlenchromosomen würde vielleicht weiterhelfen. Vielleicht gab auch Porphyr-Park einen Namen her. Der schurkische alte Mackintosh wußte genau wie ich im Innersten Dinge, die ihm nicht immer präsent waren.
Eine Falle zu stellen schien die einzige Möglichkeit, den Täter zu entlarven, wenn mir auch bis jetzt keine taugliche einfallen wollte.
Ich fuhr im Dunkeln nach Thetford Cottage zurück und scheuchte Greg und Vicky zum Essen und Trinken hinaus in die schwindelnden Höhen von Cheltenham. Vicky meinte kokett, Belinda werde noch vor ihr in die reifen Jahre kommen. Greg lächelte liebenswürdig. Wir sprachen über die Hochzeitsvorbereitungen, die Ken Belinda und Belinda weitgehend ihrer Mutter überlassen hatte. Erstaunlich, was da offenbar alles organisiert werden mußte. Wenn ich Annabel heiratete, dachte ich, würden wir bestimmt nicht so viel brauchen.