Annabel antwortete nicht.
Ich sah mich um und wurde von Entsetzen überflutet, fühlte Adrenalin heiß wie eine Arznei durch meine Adern schießen. Sie war auf den Knien, ihre Arme machten unkoordinierte Bewegungen, ihr Kopf hing herunter. Noch während ich zu ihr rannte, fiel sie bewußtlos vornüber auf den weichen Boden.
»Annabel!« Ich war außer mir, beugte mich über sie, kniete mich neben sie, drehte sie herum, wußte nicht, was ihr fehlte, wußte nicht, wie ich ihr helfen sollte, war verrückt vor Sorge.
Erst im letzten Moment hörte ich das Rascheln von Kleidung hinter mir und drehte den Kopf, zu spät, zu spät.
Eine Gestalt rückte aus knapp einem Meter heran, eine Gestalt in OP-Kittel, Gummihandschuhen, OP-Kappe und Mundschutz. Sie hielt eine Spritze in der Hand, die sie mir wie ein Messer in den Hals stieß.
Ich spürte das tiefe Eindringen der Nadel. Ich schnappte nach ihren Kleidern, und sie glitt einen Schritt zurück, die Augen wie graue Kiesel über dem Mundschutz.
Ich erkannte zu spät, daß der Mann sich hinter der Arenawand versteckt gehalten hatte, daß er hervorgeschossen war, um Annabel eine Spritze zu geben, sich dann wieder versteckt hatte und am anderen Ende herausgekommen war, um sich von hinten an mich heranzuschleichen, als ich mich über sie beugte.
Ich wußte, während die Wolken in meinem Gehirn aufzogen, während ich in einen unerbittlichen Schlaf sank, daß ich recht gehabt hatte. Schwacher Trost. Ich war auch dumm gewesen.
Der Mann in der OP-Kleidung hatte Scott ermordet.
Ein alter grauhaariger Mann mit dem ganzen tierärztlichen Wissen auf der Welt.
Carey Hewett.
Ich lag auf dem Fußboden, die Nase in die Polsterung gedrückt, und roch eine Mischung von Antiseptika und Pferd. Ich war noch halb bei Bewußtsein. Meine Augenlider wogen Zentner. Meine Glieder gehorchten mir nicht. Meine Stimme auch nicht.
Am Leben zu sein war an sich schon erstaunlich. Es war nicht, als ob ich aus dem Tod, es war, als ob ich aus der
Narkose erwachte. Ich wollte weiterschlafen.
Annabel!
Der Gedanke an sie rauschte durch mein halbwaches Bewußtsein und rief meinen schwerfälligen Geist zur Ordnung. Mit ungeheurer Mühe versuchte ich mich zu bewegen, aber wie mir schien, vergebens.
Ich mußte mich doch bewegt haben. Ein rascher Ausruf war über mir zu hören, mehr ein Keuchen als ein Wort. Ich begriff, daß mich jemand anfaßte, meine Hände bewegte, hastig und grob.
Instinktive Furcht überkam mich. Logische Furcht folgte ihr auf dem Fuß. Ketten rasselten, und dieses Geräusch kannte ich. Die Ketten des Krans.
Nein, protestierte ich dumpf. Das nicht. Nicht so wie Scott.
Die physische Wirkung des Schreckens war zuerst, daß meine Bewegungslosigkeit noch zunahm, aber danach kam ein Anfall von nützlichem Eigensinn, der aufbrannte wie Feuer und mich zum Kämpfen trieb.
Fliehen war unmöglich. Meine Glieder hatten noch immer keine Kraft. Gepolsterte Pferdemanschetten waren um meine Handgelenke geschnallt. Er befestigte die Ketten an den Manschetten.
Nein, dachte ich.
Mein Gehirn war ein einziger stummer Schrei.
Meine Augen öffneten sich.
Annabel lag wenige Schritte entfernt auf dem Fußboden in tiefem Schlaf. Zumindest sah sie aus, als ob sie schliefe. Friedlich. Ich durfte gar nicht daran denken. Ich hatte sie in furchtbare Gefahr gebracht. Ich hatte die
Telefonnachricht, daß Ramsey sich mit mir treffen wolle, für echt gehalten. Da ich wußte, daß Ken Carey erzählt hatte, wieviel wir herausbekommen hatten, hätte ich vorsichtiger sein müssen. Reue und Bedauern drangen auf mich ein wie Preßlufthämmer, unbarmherzig strafend.
Die Muskeln erholten sich jetzt schneller. Ich streckte die Finger der einen Hand nach den Schnallen am anderen Handgelenk. Die Ketten klirrten von der Bewegung.
Wieder ein Ausruf von der anderen Seite des Raums und ein Eindruck von Hast.
Der Kran quietschte, als er die Ketten einholte.
Ich bekam die Schnallen nicht auf. Eine schon, aber es waren zwei an jeder Manschette.
Die kürzer werdenden Ketten zerrten meine Handgelenke nach oben, hoben mir die Arme, zogen meinen Körper hoch, zogen mich auf die Füße, zogen mich weiter hoch, bis ich in der Luft hing. Ich schüttelte verzweifelt den Kopf, als sei das genug, um die bleierne Schwere in ihm loszuwerden und die restlichen Nebel zu vertreiben.
Carey stand im OP und drückte auf die Kran-Bedienung. Wütend und hilflos begann ich auf die Schiebetür zuzugleiten, dort hindurch und auf den riesigen Operationstisch zu. Ich stieß mit den Füßen nach Carey, aber er war außer Reichweite meiner nutzlosen Schlenker und kalt auf das konzentriert, was er machte.
Seine Gnadenlosigkeit und seine Ungerührtheit waren entnervend. Er frohlockte nicht, noch schimpfte er oder sagte mir, ich hätte mich nicht einmischen sollen. Er ging es an, als sei es eine Aufgabe wie jede andere.
»Carey«, sagte ich beschwörend, »um Himmels willen.«
Es war, als hätte er es nicht gehört.
»Ich habe Ramsey gesagt, daß Sie Scott umgebracht haben.«
Ich brüllte es, war plötzlich mit meiner Beherrschung am Ende, kopflos, krank vor Angst, glaubte mich verloren.
Er hörte nicht hin. Er konzentrierte sich auf die vorliegende Angelegenheit.
Er stoppte den Kran, als ich noch vor dem Tisch war, und legte nachdenklich den Kopf schräg. Es hat fast den Anschein, dachte ich, als wüßte er nicht weiter.
Mit einem Schlag wurde mir klar, daß er nicht vorgesehen oder damit gerechnet hatte, daß ich jetzt wach war; daß Scott ihm nicht zugesehen und ihn angebrüllt hatte; daß es für ihn nicht ganz nach Plan lief.
Das Zeug in der Spritze, ein einfaches Betäubungsmittel, wie ich verzweifelt hoffte, war zur Hälfte für Annabel draufgegangen, und er hatte mich nicht so lange ausschalten können, wie er gewollt hatte.
Daß ich nicht allein gekommen war, mußte ihn durcheinandergebracht haben. Ich nahm an, er hatte vorgehabt, mich vielleicht durch irgendein Geräusch in den OP zu locken und mir überraschend die Nadel zu verpassen. Vielleicht hatte er geglaubt, der Anblick eines Chirurgen würde mich hier nicht beunruhigen. Alles war möglich.
Er faßte einen Entschluß und ging zu einem der Wandtische, auf dem eine Nierenschale stand. Er ergriff eine Spritze, die darin lag, hielt sie ans Licht und drückte behutsam einen Tropfen durch die Kanüle.
Man brauchte mir nicht extra zu sagen, daß ich im Begriff war, mit dem Kugelfisch Bekanntschaft zu schließen.
Die Zeit war wirklich abgelaufen, wenn ich da einfach hilflos hängen blieb. Um mir zu schaden, mußte er mit der Nadel an mich herankommen. Ich brauchte ihn bloß daran zu hindern.
Die drohende Vernichtung verlieh mir Kräfte, die zu besitzen ich nicht für möglich gehalten hätte. Als er auf mich zukam, krümmte ich die Arme, um mich hochzuziehen, klappte meinen Körper wie ein Taschenmesser zusammen, zog die Knie unters Kinn und versuchte, indem ich mich dann plötzlich streckte, meine Füße links hinter mich auf den OP-Tisch zu bekommen. Ganz glückte das Manöver nicht, aber ich brachte die Füße auf die Tischkante, und das gab mir Halt genug, um auf Carey zuzuschwingen und zu versuchen, ihm die Spritze mit meinen Schuhen aus der Hand zu treten.
Er wich nach hinten aus, hielt die Spritze vorsichtshalber hoch. Ich schaukelte vergeblich durch die Luft, verzweifelt und wütend.
Nach einer Denkpause drückte er einen Bedienungsknopf für den Kran und hievte mich einen Meter weiter weg vom Tisch, zu sich hin, Richtung Schiebetür. Sofort wiederholte ich das Klappmesser, zielte aber diesmal direkt auf ihn. Er wich schnell zurück. Meine Füße trafen die Wand an der Stelle, wo er gestanden hatte, und ich stieß mich heftig von ihr ab, drehte mich in der Luft, säbelte mit den Beinen nach der Spritze.
Ich verfehlte den in die Höhe gehaltenen Tod, erwischte aber, wie es der Zufall wollte, Careys Kopf von links und rechts, mit beiden Füßen. Ich versuchte ihn fest in die Zange zu nehmen, schwang jedoch durch die Pendelwirkung wieder weg. Das einzige, was passierte, war, daß ihm die OP-Kappe und der Mundschutz herunterrutschten. Der Mundschutz blieb an seinem Hals hängen, doch die Kappe fiel auf den Boden.