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Sonderbarerweise schien ihn das aus dem Konzept zu bringen. Er hielt sich die Hand mit der Spritze an den Kopf und zog sie hastig wieder weg. Er war verwirrt, sein Gesichtsausdruck nicht giftig oder böse, sondern doppelt so erschöpft wie in den letzten Tagen. Was sich da zeigte, war nicht einfach Müdigkeit, es war seelisches Zerbrechen durch zuviel Streß.

Noch immer wie perplex, daß nicht alles nach Plan ging, bückte er sich mit dem Rücken zu mir, um die heruntergefallene Kappe aufzuheben, und ich, noch immer hilflos baumelnd, zog die Arme und Knie an und stieß Carey mit totaler Verzweiflung meine Füße in den Hintern.

Die Wucht des Treffers wurde durch den Kittel ein wenig gemindert - Vickys meisterhafter Tritt nach dem Straßenräuber blieb ohnehin unerreicht -, war aber doch so groß, daß sie ihn aus dem Gleichgewicht brachte, so groß, daß sie ihn nach vorn taumeln ließ, und so groß, daß Carey, bevor er sich aufrichten konnte, mit der Stirn gegen die scharfe Metallkante eines Schrankes schlug.

Er brach bewußtlos zusammen.

Fieberhaft bemühte ich mich, die beengenden Manschetten aufzuschnallen. Ich schnallte erst die linke auf, ohne daran zu denken, daß ich mit ihr schon angefangen hatte. Es war nicht allzu schwer, aber danach hing ich dann ganz an meinem rechten Handgelenk, und diese Schnallen linkshändig und so hoch oben aufzubekommen kostete mich enorme körperliche Anstrengung. Die nackte Panik verlieh mir Bären-, um nicht zu sagen Wahnsinnskräfte.

Ich schwitzte. Stöhnte. Kämpfte. Zwang meine Finger, die Gegenkraft meines Gewichts zu überwinden.

Endlich kamen meine Hände frei, und ich fiel, landete ungeschickt, taumelte, fing mich, dachte sofort an eine Waffe, sah mich nach etwas um, was ich Carey über den Kopf schlagen konnte, falls er sich rührte, und nach etwas zum Fesseln, falls nicht.

Schnell jetzt. Schnell.

Die Lösung war passend und unglaublich einfach. Ich schaltete selbst den Kran ein und ließ die Ketten mit den noch daran befestigten Manschetten in voller Länge herunter. Dann, ganz vorsichtig, da das Tetrodotoxin noch immer nur einen Nadelstich entfernt war, zog ich Careys Arme unter ihm hervor, drehte sie ihm auf den Rücken und band die Manschetten um seine Handgelenke, schnallte sie jedoch über Kreuz fest, so daß sie miteinander verbunden waren und fast unmöglich zu öffnen. Ein Puls war noch vorhanden. In seinen Handgelenken pochte es. Besser, er wäre gestorben, dachte ich.

Ich ging zur Kransteuerung und ließ nach und nach die Ketten hoch, bis sie gerade soweit eingeholt waren, daß sie Careys latexbehandschuhte Hände sechs bis acht Zentimeter über seinem Rücken fixierten. Wenn er in dieser Stellung aufwachte, würde er kaum in der Lage sein, den Kopf vom Boden zu heben.

Für den Augenblick zufrieden, aber voll angestauter Sorge lief ich in den gepolsterten Raum und zu Annabel hinüber.

Sie schlief. Ich fühlte auch ihren Puls. Stark genug. Sie lebte.

»O Annabel.« Von Rührung überwältigt, streichelte ich ihr Haar.

Mir war zum Weinen. Helden, die sechs Schläge in den Solarplexus einstecken und lächelnd wieder aufstehen, ist nie zum Weinen.

Ich stolperte auf wackligen Beinen zum Büro und schickte Ramsey ein telefonisches SOS, er solle kommen und Verstärkung mitbringen. Ging wieder zu Annabel, setzte mich schwach neben sie, den Rücken gegen die Arenawand, und beobachtete durch die Schiebetür, ob Carey Anzeichen von mörderischem Bewußtsein zeigte.

Ich hielt Annabels Hand, ebensosehr um mich zu trösten wie um Trost zu spenden.

Sie lebte. Sie würde aufwachen wie ich. Sie mußte. Ich liebte sie innig.

Keine Falle, die ich mir hätte ausdenken können, hätte Carey so schlüssig überführt wie die, die er mir gestellt hatte.

Zwischen Intuition und Wahrscheinlichkeit war ich zu der Einsicht gekommen, daß Carey der sein mußte, den ich suchte, aber bis zu seinem Angriff auf mich hatte ich keine Möglichkeit gehabt, irgend jemand anders davon zu überzeugen. Carey war der große alte Mann, der Vater der Praxis, die Autoritätsfigur, derjenige, der vor allen anderen den Respekt und das Vertrauen der Kunden genoß.

All diese alten Männer. Seine Generation. Männer, die sich bereits ein halbes Leben lang kannten. Und die alle die Geheimnisse kannten.

Vor langer Zeit hatten Ronnie Upjohns Vater und Theo Travers’ Großvater als Versicherungsagenten überdurchschnittlichen Erfolg gehabt und ein Vermögen erworben.

Vor langer Zeit hatte Kenny McClure Tetrodotoxin bestellt, um es an den gewissenlosen Mackintosh weiterzugeben, der heute noch mit Carey Karten spielte. Es war Carey, nahm ich an, der Kenny - ein Kollege, aber nicht sein Partner - überredet hatte, das Gift zu besorgen, und als Kenny aufging, was er getan hatte, war er zum Dank dafür erschossen worden.

Vor langer Zeit hatte Wynn Lees einem Nebenbuhler die Hose an die Geschlechtsteile genietet, hatte seine Strafe abgesessen und war nach Australien gegangen.

Die jetzigen Probleme hatten nach Wynn Lees’ Rückkehr angefangen, und vielleicht war er der Auslöser gewesen, der den Motor wieder in Gang gesetzt hatte.

Carey mußte Geld gebraucht haben. Nicht auszuschließen, daß er bei der Porphyr-Pleite die Ersparnisse verloren hatte, die seine Altersversorgung sichern sollten. Nicht undenkbar, daß er versucht hatte, sie sich mit Hilfe seiner Fachkenntnisse wiederzuholen.

Nicht auszuschließen, daß er Travers, den Versicherungsmenschen der dritten Generation, irgendwie überredet hatte, mit ihm zusammen reich zu werden, auch nicht, daß Travers dann rausgewollt hatte wie Kenny und feststellen mußte, daß Aussteigen Sterben hieß.

Carey, dachte ich, hatte das Gebäude nicht nur angezündet, um Travers’ Identifizierung zu verzögern oder zu verhindern, sondern auch, um alle seine Fährten zu verwischen. Bestellungen, Rechnungen, der ganze verräterische Papierkram war praktischerweise in Rauch aufgegangen und vor allem - ich begriff es mit ehrfürchtigem Schaudern - die Blutproben, die an dem Tag genommen wurden, als das Röhrbein-Pferd auf dem OP-Tisch starb. Diese Proben hätten einen Überschuß an Kalium enthalten. Damit wären die unerklärlichen Todesfälle im Operationssaal auf einen Schlag geklärt gewesen, und die Jagd nach dem Schuldigen wäre angelaufen.

Natürlich hatte sich niemand je etwas dabei gedacht, daß Carey in dem Raum, wo die Infusionsflüssigkeit gelagert wurde, ein und aus ging. Natürlich hatte niemand je nachgeprüft, was für Chemikalien Carey bestellte. Niemand fand etwas dabei, daß er alte Freunde und ihre Pferde besuchte, und natürlich machte sich auch niemand Sorgen, wenn er eines Abends bei den Eaglewoods auftauchte und nach seinen Patienten sah, ihnen heimlich aber Insulin verabreichte.

Carey konnte hingehen, wo er wollte, tun, was er wollte, ohne es erklären oder rechtfertigen zu müssen, ohne Verdacht zu erregen. Schließlich würde es keinem halbwegs vernünftigen Chef einer Tierklinik einfallen, den Ruf seines besten Chirurgen zu zerstören oder eine Praxis zu ruinieren, deren Aufbau er sein Leben gewidmet hatte. Aber Carey, dachte ich, hatte seinen Schnitt machen und sich verabschieden wollen. Die Ereignisse hatten ihn zur Eile getrieben: Travers hatte den Brand heraufbeschworen. Ken hatte die kolikkranke Stute gerettet, die sterben sollte. Aus Careys Sicht war es nur nötig gewesen, die Stute zu erledigen und dem Mann, der das Gift besorgt hatte, den Mund zu stopfen. Danach hatte ihn nichts mehr halten können, und er hatte geschickt das Ende der Partnerschaft bekanntgegeben. Hätte Ken ihm nicht erzählt, wieviel wir herausgefunden hatten, wäre er in diesem Moment wahrscheinlich friedlich beim Packen gewesen, wieder zahlungskräftig und klar zum Auswandern, anstatt mit dem Gesicht mitten in einem Scherbenhaufen zu liegen.