Die Tierarztpraxis lag in einem stattlichen, von der Straße zurückgesetzten Backsteingebäude mit Parkplätzen nicht nur für mehrere Pkws, sondern sogar für einen Pferdetransporter. Tatsächlich parkte gerade ein großer Pferdetransporter davor. Machten Tierärzte keine Hausbesuche mehr?
Ich setzte den Mietwagen auf ein freies Stück Asphalt und half Vicky beim Aussteigen. Sie spürte bereits die Zeitverschiebung, litt unter einem Stoffwechsel, der ihr sagte, daß sie um zwei Uhr früh aufgeweckt worden war, auch wenn die Uhren hier alle auf sieben gestanden hatten. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, ein eingefallenes Gesicht und machte insgesamt einen erschöpften Eindruck. Ein weißer Plastikschild an einem Kopfband schützte ihr verletztes Ohr, doch das weiße Haar ringsherum hatte viel von seiner flaumigen Spannkraft verloren. Sie sah wie eine müde alte Frau aus, und auch der im Auto vorhin noch schnell aufgetragene Lippenstift verbarg den wahren Sachverhalt in keiner Weise.
Das Wetter half ebensowenig. Direkt aus der Wärme Floridas in einen graukalten, windigen englischen Februartag hineinzukommen ist für jeden ein schauderhaftes Erlebnis; den Wayfields in ihrem angeschlagenen Zustand gab es den Rest.
Vicky trug einen dunkelgrünen Hosenanzug und eine weiße Bluse, kaum die richtige Ausrüstung für England, und war noch zu matt, um sich mit Goldkettchen und dem ganzen Klimbim vollzuhängen. Einfach nur ins Flugzeug zu steigen hatte schon gereicht.
Greg tat sein Bestes, ihr eine Stütze zu sein, aber trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen war es klar, daß der Überfall, die lange Ohnmacht und seine Unfähigkeit, Vicky in dieser Situation zu Hilfe zu kommen, ihn in den Grundfesten erschüttert hatten. Er hatte das Kofferschleppen völlig mir überlassen, nicht ohne sich vorher sechsmal zu entschuldigen, daß er sich so schwach fühle.
Ich war keineswegs der Ansicht, sie müßten schon längst wieder auf den Beinen sein. Die Straßenräuber waren starke, entschlossene Gegner gewesen, und der Schlag, den ich selbst abbekommen hatte, war wie ein Stoß mit der Pfahlramme gewesen. Außerdem hatte die Polizei uns alle durch die Einschätzung deprimiert, daß man die Täter weder ermitteln noch ergreifen werde: Die brutale Feindseligkeit, mit der sie uns behandelt hatte, war anscheinend nichts Ungewöhnliches. Vicky wurde mehr oder weniger empfohlen, in Zukunft keine Ohrringe mit Schraubverschluß mehr zu tragen.
»Damit sie mich leichter berauben können?« hatte sie mit müdem Sarkasmus gefragt.
»Es ist besser, Sie tragen Imitate, Ma’am.«
Sie hatte den Kopf geschüttelt. »Wenn man echten Schmuck hat, macht das keinen Spaß.«
Vor der Tierarztpraxis kletterte Greg ohne meine Hilfe aus dem Wagen, und alle drei gingen wir zu dem Backsteingebäude und traten durch eine Glastür in einen Vorraum. Dieser mit braunem Teppich ausgelegte Raum enthielt zwei Stühle und einen Schalter, an den man sich lehnen konnte, während man mit der jungen Frau in dem Büro auf der anderen Seite sprach.
Sie saß an einem Schreibtisch und telefonierte.
Wir warteten.
Schließlich machte sie sich ein paar Notizen, legte auf, wandte uns ein fragendes Gesicht zu und sagte: »Ja?«
»Belinda Larch ...«:, sagte Vicky zögernd.
»Ist leider nicht im Haus.« Eine knappe Antwort: nicht direkt unhöflich, aber auch nicht gerade entgegenkommend. Vicky sah aus, als fehlte nicht viel, und sie würde in Tränen ausbrechen.
Ich sagte zu der jungen Frau: »Vielleicht können Sie uns sagen, wo wir sie finden. Dies ist ihre Mutter, sie kommt gerade aus Amerika. Belinda erwartet sie.«
»Ah, ja.« Sie sah keinen Anlaß zu übertriebener Herzlichkeit.
»Ich dachte, die sollte gestern ankommen.«
»Ich hatte angerufen«, sagte Vicky kläglich.
»Setzen Sie sich«, sagte ich zu ihr. »Sie und Greg setzen sich auf die Stühle hier und warten, und ich hole Belinda.«
Sie setzten sich. Ich kümmerte mich jetzt schon so lange um sie, daß sie mir vielleicht sogar gehorcht hätten, wenn ich gesagt hätte: »Legen Sie sich auf den Boden.«
»Also«, sagte ich zu dem Mädchen. »Wo finde ich sie?«
Sie wollte mich auf die gleiche kühle Tour abfertigen, sah dann aber etwas in meinem Gesicht, das sie bewog, den Kurs zu ändern. Sehr klug von ihr, dachte ich.
»Na, sie ist im Kliniktrakt und assistiert den Ärzten. Da können Sie nicht rein. Die operieren ein Pferd. Tut mir leid, aber Sie werden warten müssen.«
»Können Sie sie anrufen?«
Sie hatte das Nein auf der Zunge, sah die Wayfields an, sah mich an und griff mit hochgezogenen Augenbrauen zum Hörer.
Das Gespräch war kurz, brachte uns aber weiter. Das Mädchen legte auf und zog ein beschriftetes Schlüsselbund aus einer Schublade.
»Belinda sagt, sie kann frühestens in einer Stunde raus, aber hier sind die Schlüssel für das Cottage, in dem ihre Mutter wohnen soll. Wenn Sie dahin fahren, kommt sie nach, sobald sie kann.«
»Und wo ist das Cottage?«
»Die Adresse steht auf dem einen Etikett und auf dem Schlüsselring. Ich weiß nicht, wo das ist.«
Danke trotzdem, dachte ich. Ich geleitete Greg und Vicky zurück zum Wagen und fragte Passanten nach dem Weg. Die meisten hatten keine Ahnung, doch schließlich erhielt ich den zuverlässigen Hinweis eines auf einem Leitungsmast arbeitenden Fernmeldetechnikers, lenkte von der belebten Straße weg, eine Steigung hinauf, um eine Kurve und nahm die erste Abzweigung nach links.
»Es ist das erste Haus da auf der rechten Seite«, hatte man mir von oben herunter gesagt. »Sie können es nicht verfehlen.«
Tatsächlich hätte ich es doch beinah verpaßt, da es nicht meiner Vorstellung von einem Cottage entsprach. Kein Strohdach, keine Rosen vor der Tür. Keine malerischen kleinen Fenster oder ausgebauchten, weiß getünchten Wände. Thetford Cottage war ein ziemlich großes Haus, nicht älter als Vicky oder Greg.
Ich bremste unschlüssig, aber es gab keinen Zweifeclass="underline" Die Worte »Thetford Cottage« waren in zwei viereckige Steinsäulen gemeißelt, die ein imposantes steinernes Tor einrahmten. Ich hielt an, stieg aus, öffnete das Tor, fuhr hindurch und hielt innen auf dem kiesbestreuten Vorplatz.
Es war ein verwittertes, dreistöckiges graugelbes Gebäude, gemauert aus dem hiesigen Cotswoldgestein, gedeckt mit grauem Schiefer, die Fenster braun umrandet. Das einzige Überraschende an der sonst strengen Fassade war der überdachte Balkon über dem Vordereingang, mit einer Steinbalustrade und von der Straße eben noch sichtbaren Fenstertüren dahinter.
Vicky stieg zögernd aus, hielt sich an meinem Arm fest und stemmte sich gegen den Wind, der ihr das Haar zerzauste.
»Ist es hier?« fragte sie unsicher.
Sie blickte sich um, sah auf die kahlen Blumenbeete, die unbelaubten Bäume, das ungepflegte Gras und ließ verzagt die Schultern hängen.
»Hier ist es doch bestimmt nicht ...?«:
»Wenn der Schlüssel paßt, schon«, sagte ich betont optimistisch; und der Schlüssel paßte wirklich, und schon hatten wir aufgeschlossen.
Im Haus war es kalt, eine klirrende Kälte, die verriet, daß es in letzter Zeit nicht beheizt worden war. Wir standen in einer Diele mit Holzfußboden und schauten auf eine Menge geschlossene Türen und eine blankgeputzte Holztreppe, die zu noch unentdeckten Freuden hinaufführte.
»Tja«, sagte ich bibbernd. »Sehen wir uns mal um.«
Ich öffnete entschlossen eine der Türen, erwartete zumindest einen Fensterblick und stellte fest, daß es eine Toilette war.
»Gott sei Dank«, sagte Greg erleichtert, während er die Annehmlichkeiten im Inneren betrachtete. »Entschuldigen Sie mich, Peter.« Er drängte sich an mir vorbei, ging hinein und schloß die Tür hinter sich.
»So ist einer von uns schon mal zufrieden«, sagte ich und mußte mir ein Lachen verbeißen. »Jetzt brauchen wir noch einen Ofen.«