Eine Flügeltür führte in ein großes Gesellschaftszimmer, eine andere Tür ins Eßzimmer, eine dritte in ein kleines Wohnzimmer mit Sesseln, Fernseher und - den Göttern sei Dank - einem Elektroofen, der sich ohne Papier, Holz und Kohle in Gang setzen ließ.
Er wärmte gut und führte uns sogar züngelnde Flammen vor. Vicky ließ sich wortlos in einen Sessel sinken und kauerte sich dann zitternd vor dem Feuer zusammen. Sie sah krank aus.
»Komme gleich wieder«, sagte ich und lief die Treppe hinauf, um eine Wolldecke oder sonst etwas Warmes zu holen. Auch oben waren sämtliche Türen geschlossen. Die erste, die ich aufmachte, führte in ein Bad. Du mußt ein Wünschelrutengänger sein, dachte ich. In dem Zimmer nebenan standen zwei Einzelbetten, ungemacht, aber mit säuberlich bereitgelegtem Bettzeug.
Besser als Wolldecken: Steppdecken. Königsblau,
übersät mit weißen Gänseblümchen. Ich raffte sie beide zusammen und stieg die blankgewienerte Treppe wieder hinunter, die sich, wenn man nicht achtgab, als Rutschbahn erweisen konnte.
Vicky hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Greg stand vor ihr und sah hilflos auf sie hinab.
Ich gab ihnen die Steppdecken. »Hier - wickeln Sie sich darin ein, und ich schau mal, ob in der Küche was Warmes zu trinken ist.«
»Johnnie Walker?« schlug Greg vor.
»Ich sehe nach.«
Ich hatte alle Türen im Flur offengelassen, zwei Zimmer aber noch nicht erkundet. Das eine war ein großer Abstellraum für Besen, Gartengeräte und Blumenvasen, das andere eine kalte, sterile Küche mit weißen Arbeitsflächen rings um den schwarzweiß gefliesten Fußboden. Auf einem Tisch in der Mitte die ersten noch frischen Spuren menschlichen Lebens: eine ungeöffnete Schachtel Tee in Aufgußbeuteln, künstlicher Süßstoff und ein großkariertes Päckchen Teekuchen.
Der Kühlschrank war bis auf eine Tüte Milch leer. Die Schränke enthielten neben dem üblichen Krimskrams eine Menge selbst eingemachter Marmelade, reihenweise Dosensuppen und Fischkonserven, hauptsächlich Thunfisch.
Ich ging wieder zu Vicky und Greg, die jetzt dumpf in Königsblau mit vielen weißen Gänseblümchen dasaßen.
»Teebeutel oder Schnellkaffee?« fragte ich.
»Tee«, sagte Vicky.
»Johnnie Walker?« wiederholte Greg hoffnungsvoll.
Ich lächelte ihn an und machte mich auf die Suche. Aber kein Alkohol in den Eßzimmerschränken, keiner in der Küche, keiner im Gesellschaftszimmer. Ich goß Tee für sie beide auf und brachte ihn zusammen mit dem Teekuchen und der schlechten Nachricht in das kleine Wohnzimmer.
»Sie meinen, hier ist nirgends was zu trinken?« rief Greg bestürzt aus. »Nicht mal Bier?«
»Ich kann nichts finden.«
»Das haben die weggesperrt«, sagte Vicky unerwartet. »Jede Wette.«
Es konnte zwar sein, daß die Eigentümer, wer immer sie waren, das getan hatten, aber andererseits waren ihre Vorratsschränke offen und gefüllt, und ich war nirgends auf versperrte Zugänge gestoßen.
Vicky hielt, während sie trank, die Tasse Tee in beiden
Händen, wie um sich daran zu wärmen. In dem Raum selbst war es inzwischen merklich wärmer als sonst im Haus, und ich überlegte schon, ob ich nicht herumlaufen und sämtliche erreichbaren Heizkörper einschalten sollte.
Ehe ich dazu kam, fuhr ein Wagen draußen vor, eine Tür knallte, und eine junge Frau betrat im Eilschritt das Haus. Das mußte Belinda sein.
Wir hörten sie »Mutter?« rufen, dann stand sie auch schon in der Tür. Sie war schlank, in steingebleichten Jeans mit einer olivgrünen Daunenjacke darüber. Feingliedrig und auf eine adrette Art hübsch. Um die Dreißig, dachte ich. Ihr hellbraunes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, der, obwohl sicher praktisch, ihr nicht sonderlich gut stand. Sie machte ein besorgtes Gesicht, allerdings, wie sich bald herausstellte, nicht ihrer Mutter wegen.
»Mutter? Ah, gut, da bist du ja.«
»Ja, Liebes«, sagte Vicky müde.
»Tag, Greg«, sagte Belinda knapp, trat auf ihn zu und gab ihm ein pflichtbewußtes Küßchen. Ihrer Mutter wurde dieselbe Behandlung zuteiclass="underline" ein Kuß auf die Wange, aber kein liebevolles In-die-Arme-Schließen.
»Tja, Mutter, tut mir leid, aber ich kann nicht bleiben«, sagte sie. »Ich hatte mir gestern frei genommen, aber da ihr euch einen Tag verspätet habt ...« Sie zuckte die Achseln. »Ich muß wieder zurück. Das Pferd ist gestorben. Wir müssen eine Obduktion vornehmen.« Sie starrte ihre Mutter an. »Was ist denn mit deinem Ohr los?«
»Ich hab dir doch am Telefon erzählt -«
»Ah ja, hast du. Ich bin so in Sorge wegen der Pferde. Kommt das Ohr denn jetzt in Ordnung? Wir werden übrigens kirchlich getraut, nicht auf dem Standesamt, und geben den Empfang in diesem Haus. Das erzähle ich euch
noch. Jetzt muß ich zurück in die Klinik. Macht’s euch gemütlich, ja? Vielleicht könnt ihr euch was zu essen holen. Milch und so weiter hab ich gestern eingekauft.« Ihr gehetzter Blick blieb an mir hängen. »Entschuldigen Sie, wie war doch Ihr Name?«
»Peter Darwin«, erwiderte ich höflich.
»Peter«, sagte Vicky mit Nachdruck, »ist unser Helfer in der Not gewesen.«
»So? Na schön. Nett, daß Sie ihnen geholfen haben.« Ihr Blick glitt von mir weg, umfaßte den Raum als Ganzes. »Die Sandersons, denen das Haus gehört, sind für zwei Monate nach Australien. Sie vermieten es dir ziemlich günstig, Mutter, und ich laß dann einen Gastro-Service kommen ... Du wolltest doch immer, daß ich eine richtige Hochzeit feiere, mit allem Drum und Dran, und ich hab’s mir überlegt, du hast recht.«
»Ja, Schatz«, sagte Vicky demütig, mit allem einverstanden.
»Morgen in drei Wochen«, teilte ihr Belinda mit. »Und jetzt, Mutter, muß ich aber wirklich sausen.«
Unvermittelt fiel mir ein Gespräch ein, das ich vor langer Zeit in Madrid geführt hatte, mit meinem Vater.
»Ein Kind, das seine Mutter >Mutter< nennt, will sie beherrschen«, sagte er. »Daß du zu deiner Mutter niemals >Mutter< sagst!«
»Nein, Pa.«
»Du kannst Mama zu ihr sagen, Schatz, Mutsch, Mutti oder auch blöde alte Kuh, wie du das vorige Woche mal vor dich hin gemurmelt hast, aber niemals Mutter. Verstanden?«
»Ja, Pa.«
»Und warum hast du blöde alte Kuh zu ihr gesagt?«
Ihn anzulügen war so gut wie unmöglich: Er durchschaute es immer. Schluckend sagte ich ihm die Wahrheit. »Sie wollte mich nicht zum Wettlauf mit den Stieren nach Pamplona fahren lassen, weil ich erst fünfzehn bin.«
»Recht hat sie. Deine Mutter hat immer recht. Sie hat dich ordentlich erzogen, und eines Tages wirst du ihr dafür dankbar sein. Und sag niemals Mutter zu ihr.«
»Nein, Pa.«
»Mutter«, sagte Belinda, »Ken möchte, daß wir demnächst zusammen zu Abend essen. Eigentlich dachte er an heute abend, aber bei dem ganzen Ärger ... Ich ruf dich nachher noch an.«
Sie winkte kurz, drehte sich um und verschwand so schnell, wie sie gekommen war.
Nach einer kurzen Pause sagte Vicky tapfer: »Als Baby war sie richtig süß, immer verschmust und lieb. Aber wenn sie heranwachsen, werden Mädchen so selbständig ...« Sie hielt inne und seufzte: »Wir kommen eigentlich ganz gut miteinander aus, wenn wir uns nicht zu oft sehen.«
Greg sah mich von der Seite an und schwieg, doch ich merkte, daß er meine Ansicht über die Begrüßung zwischen Tür und Angel teilte. Belinda, dachte ich, war ganz schön egoistisch.
»Gut«, sagte ich fröhlich, »dann können wir jetzt ja mal Ihr Gepäck reinholen, und wenn Sie möchten, gehe ich anschließend einkaufen.«
Eine gewisse Geschäftigkeit behob das momentane Gefühlstief wenigstens teilweise, und bald hatte Vicky sich hinreichend erholt, um den ersten Stock zu erkunden. Das große Bett in dem Raum, der sonst offensichtlich den Sandersons vorbehalten war, sah zumindest aus, als könnte man es gleich benutzen, auch wenn ihre Kleider noch die Schränke einnahmen. Vicky sagte apathisch, sie werde die Koffer, die ich ihr hinaufgetragen hatte, später auspacken, sich jetzt aber erst mal so, wie sie war, hinlegen.