In den letzten dreihundert Jahren hatte es mehrere Versuche gegeben, die untergegangene Stadt zu erreichen. So führte im Jahre 1692 John Marley, ein englischer Abenteurer, eine zweihundertköpfige Expedition in den Kongo, von der nie wieder etwas gehört wurde. Eine holländische Expedition machte sich 1744 auf den Weg. Und 1804 stieß eine andere britische Gruppe unter Führung eines schottischen Aristokraten, Sir James Taggert, von Norden her nach Virunga vor und gelangte bis zur Rawana-Biegung des Flusses Ubangi. Von dort schickte Taggert einen Vortrupp weiter nach Süden, der jedoch nie zurückkehrte. 1872 kam Stanley in die Nähe des Virunga-Gebiets, betrat es jedoch nicht. Eine deutsche Expedition, die 1899 in das Gebiet eindrang, verlor über die Hälfte ihrer Mitglieder. Nachdem 1911 eine von privater Seite finanzierte italienische Expedition vollständig und spurlos verschwunden war, hatte man von keinen weiteren Versuchen mehr gehört, die tote Stadt Zinj zu erreichen.
»Also hat sie bisher niemand gefunden?« sagte Elliot. Ross schüttelte den Kopf. »Ich könnte mir denken, mehrere Expeditionen haben sie gefunden«, sagte sie. »Nur ist niemand je zurückgekehrt, um davon zu berichten.«
Daran war nun nichts besonders Geheimnisvolles. In ihren Anfängen war die Erforschung Afrikas voller Gefahren gewesen. Selbst gut ausgerüstete und gut geführte Expeditionen verloren oft die Hälfte ihrer Teilnehmer oder mehr. Wer nicht der Malaria, der Schlafkrankheit und dem Schwarzwasserfieber zum Opfer fiel, mußte Flüsse voller Krokodile und Flußpferde überwinden sowie Dschungel, in denen es Leoparden und den fremden Eindringlingen gegenüber äußerst mißtrauische Eingeborene gab, die oft genug noch dem Kannibalismus huldigten. Und bei all seiner schwellenden und üppigen Fruchtbarkeit lieferte der Regenwald doch nur wenig Eßbares, so daß einige Expeditionen schlicht verhungert waren.
»Ich ging von der Vorstellung aus«, sagte Karen Ross, »daß es die Stadt gab. Wo aber würde ich sie dann finden?«
Die tote Stadt Zinj wurde im Zusammenhang mit Diamantminen genannt, und Diamanten fanden sich in der Nähe von Vulkanen. Das hatte Karen Ross dazu veranlaßt, ihre Aufmerksamkeit der Zentralafrikanischen Schwelle zuzuwenden - einem riesigen geologischen Verwerfungsgebiet von fünfzig Kilometer Breite, das unter dem Namen »Zentralafrikanischer Graben« bekannt ist und über eine Entfernung von rund zweitausendvierhundert Kilometern von Norden nach Süden durch das östliche Drittel des Kontinents verläuft. Eben wegen seiner Größe erkannte man erst in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, daß es sich um eine Bruchstufe handelte, nämlich als ein Geologe namens Gregory feststellte, daß die fünfzig Kilometer voneinander entfernt liegenden Felswände aus demselben Gestein bestanden. Der Zentralafrikanische Graben ist nichts anderes als ein in neuerer Zeit fehlgeschlagener Ansatz zur Bildung eines Ozeans, denn vor zweihundert Millionen Jahren hatte das östliche Drittel des Kontinents begonnen, sich von der übrigen Landmasse Afrikas abzulösen. Aus irgendeinem Grund war diese Bewegung vor ihrem Abschluß zum Stillstand gekommen.
Auf einer Landkarte läßt sich erkennen, daß zwei Merkmale den Zentralafrikanischen Graben kennzeichnen: eine Reihe schmaler, von Norden nach Süden verlaufender Seen - der Mobutu-Sese-Soko-See, der Kivusee, der Tanganyikasee und der Nyassa-see - sowie eine Reihe von Vulkanen, unter ihnen die einzigen in Afrika noch tätigen. Sie liegen im Virunga-Gebiet, das im Altertum »Mondberge« hieß: der Muhavura, der Sabyinyo und der Nyamuragira. Sie erheben sich etwa viertausendsechshundert Meter über dem Zentralafrikanischen Graben im Osten und dem westlich von ihnen liegenden Kongo-Becken. Daher schien das Virunga-Gebiet für die Suche nach Diamanten durchaus geeignet. Karen Ross' nächster Schritt bestand darin, die »Wahrheit des Bodens« zu ermitteln.
»Was ist die >Wahrheit des Bodens<?« fragte Peter. »Bei der ERTS arbeiten wir meist mit Fernerkundung«, erklärte sie. »Satellitenfotografie, Überfliegen des Geländes und Abtasten mit Schrägsichtradar, ein seitlich abstrahlendes Radarverfahren.
Wir haben Millionen von Bildern mit, die auf diese Weise zustande gekommen sind, aber es gibt keinen Ersatz für die >Wahrheit des Bodens<, die Erfahrung einer Gruppe von Leuten, die sich vor Ort mit den Gegebenheiten auseinandersetzen.
Angefangen habe ich mit einer Vorexpedition, die wir zur Goldsuche ausgeschickt hatten und die auch Diamanten fand.« Sie drückte Knöpfe auf der Konsole, und auf dem Bildschirm erschienen andere Bilder, eingerahmt von Dutzenden stecknadelkopfgroßer Lichtquellen.
»Hier sehen Sie die Ablagerungen in Flußbetten in der Nähe des Virunga-Gebiets. Man kann erkennen, daß sie konzentrische Halbkreise bilden, die auf die Vulkane zurückweisen. Damit liegt die Schlußfolgerung nahe, daß Erosion die Diamanten von den Hängen der Virunga-Vulkane weggewaschen hat und sie mit den Flüssen dorthin gelangten, wo sie jetzt sind.« »Also haben Sie eine Gruppe ausgeschickt, die nach der Ursprungsstelle suchen sollte?«
»Ja.« Sie wies auf den Bildschirm. »Aber lassen Sie sich nicht von dem täuschen, was Sie hier sehen. Auf diesem Satellitenbild sind hundertdreißigtausend Quadratkilometer Dschungel erfaßt, der zum größten Teil noch unerforscht ist. Es ist ein sehr schwieriges Gelände, die Sicht beträgt dort in jeder Richtung nur wenige Meter. Eine Expedition könnte in diesem Gebiet jahrelang suchen und in einer Entfernung von zweihundert Metern an der Stadt vorbeilaufen, ohne sie je zu sehen. Daher mußten wir den Sektor meiner Suche einengen. Ich wollte feststellen, ob die Stadt sich finden ließ.«
»Die Stadt finden? Mit Hilfe von Satellitenbildern?« »Ja«, sagte sie. »Und ich habe sie gefunden.«
Die Regenwälder auf unserem Erdball haben aller Fernerkundung stets erfolgreich getrotzt. Die hohen Dschungelbäume breiten ein undurchdringliches Vegetationsdach aus, das alles, was sich auf dem Boden darunter befindet, fremden Blicken entzieht. Auf Luft- oder Satellitenaufnahmen erschienen die Regenwälder des Kongo stets als riesiger, welliger Teppich aus Grün, eintönig und ohne markante Anhaltspunkte. Selbst große Landmarken, wie beispielsweise fünfzehn oder dreißig Meter breite Flüsse, verbargen sich unter diesem Blätterdach, so daß sie aus der Luft nicht zu sehen waren.
Die Aussichten waren also sehr gering, auf Luftaufnahmen Anzeichen einer toten Stadt zu finden. Doch Karen Ross packte die Sache anders an: gerade die Vegetation, die ihr den Blick auf den Boden versperrte, wollte sie sich nutzbar machen. , Die Untersuchung der Vegetation war in den gemäßigten Zonen, in denen die Belaubung jahreszeitlichen Unterschieden unterworfen ist, durchaus üblich. In den äquatorialen Regenwäldern gab es jedoch keine Veränderungen, die Belaubung war winters wie sommers gleich. Daher wandte Karen Ross ihre Aufmerksamkeit einem anderen Merkmal zu, und zwar den Unterschieden in der Vegetations-Albedo.
Die Albedo ist ein quantitativer Ausdruck der Reflexionsfähigkeit, und sie ist zahlenmäßig gleich dem Verhältnis zwischen der senkrecht einfallenden und der zum Beobachter hin abgestrahlten Lichtmenge. Bezogen auf das sichtbare Spektrum ist sie ein Maß dafür, wie »hell« eine Oberfläche ist. Daraus lassen sich bestimmte Hinweise auf das Material der reflektierenden Fläche gewinnen. Ein Fluß beispielsweise hat eine hohe Albedo, weil Wasser den größten Teil des auftreffenden Sonnenlichts reflektiert, Pflanzen hingegen absorbieren Licht und haben daher eine niedrige Albedo. 1977 begann die ERTS mit der Entwicklung von Computer-Programmen, die die Albedo genau zu messen und auch geringe Unterschiede zu berücksichtigen vermochten. Karen Ross stellte sich die Frage: Wenn es die tote Stadt wirklich gab - wie konnte sich das in der Vegetation äußern? Die Antwort dafür lag auf der Hand: in Form späten Sekundärwalds. Der unberührte Regenwald wird als Primärwald bezeichnet. Ihn meinen die meisten Menschen, wenn sie an Regenwälder denken: riesige Hartholzbäume, Mahagoni, Teak und Ebenholz, in den Stockwerken darunter Farne und Palmgewächse. Primärwälder sind dunkel und abweisend, lassen sich aber leicht durchqueren. Wenn aber der Mensch ursprünglichen tropischen Regenwald, also Primärwald, rodete und das Gelände später wieder sich selbst überließ, entstand ein gänzlich anderes, ein Sekundärwachstum. Die dabei vorherrschenden Pflanzen waren Weichhölzer und schnellwüchsige Bäume. Der Reichtum an Lianen, dornigen Sträuchern und Bambus machte diese Gebiete oft undurchdringlich: es war der typische Dschungel, das, was der Laie sich unter »Urwald« vorstellte.