Und wie er erwartet hatte, war die Nacht ruhig und ohne Zwischenfälle verlaufen. Gegen Mitternacht hatte sich im Gebüsch irgend etwas geregt, und aus ein paar leisen, zischelnden Keuchlauten hatte er auf einen Leoparden getippt -Großkatzen haben oft Schwierigkeiten mit der Atmung, vor allem im Dschungel. Sonst war alles ruhig geblieben, und jetzt war die Morgendämmerung da: die Nacht war vorüber.
Ein leises Piepsen lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Auch Misulu hörte es und sah fragend zu Krüger hinüber. Am Sendegerät blinkte ein rotes Licht. Krüger stand auf und ging quer über den Lagerplatz zu dem Gerät hin. Er wußte, wie man es bediente, die Amerikaner hatten darauf bestanden, daß er es »für den Notfall« lernte. Er beugte sich über den schwarzen Kasten des Sendeverstärkers mit seinen rechteckigen grünen Leuchtdioden.
Er drückte einige Knöpfe, und auf dem Schirm erschienen die Buchstaben TX HX. Das bedeutete eine Mitteilung aus Houston. Er gab den AntwortCode ein, und auf der Scheibe erschien das Wort CAMLOK. Damit forderte Houston eine Übertragung per Videokamera an. Er sah zu der Kamera auf ihrem Stativ hinüber und bemerkte, daß das rote Licht auf dem Gehäuse immer noch blinkte.
Er drückte den Knopf für die Trägerfrequenz, und auf dem Schirm erschien das Wort SATLOK, das hieß, daß eine Satellitenübertragung aufgeschaltet wurde. Jetzt würde eine Pause von sechs Minuten eintreten. So lange dauerte es, bis das vom Satelliten abgestrahlte Signal eingefangen werden konnte.
Es war das beste, wenn er jetzt den leitenden Geologen, Driscoll, weckte. Driscoll würde die wenigen Minuten brauchen, die vergingen, bis die Mitteilung durchkam. Krüger fand es belustigend, daß die Amerikaner jedesmal ein frisches Hemd anzogen und sich kämmten, bevor sie vor die Kamera traten - genau wie Reporter im Fernsehen, dachte er.
Über ihren Köpfen schrien und kreischten die Stummelaffen in den raschelnden Ästen der Bäume. Krüger warf einen Blick nach oben. Was sie wohl aufgestört hatte? Andererseits waren frühmorgendliche Kämpfe zwischen Stummelaffen nichts Besonderes.
Etwas prallte ihm leicht gegen die Brust. Zuerst hielt er es für ein Insekt, aber als er auf sein Khakihemd blickte, sah er einen roten Fleck und ein Stück Fruchtfleisch, das am Hemd hinabglitt. Die verdammten Affen werfen mit Beeren, dachte er und bückte sich, um es aufzuheben. Und da merkte er, daß es etwas ganz anderes war. Er hielt ein zerquetschtes, glitschiges Menschenauge zwischen den Fingern, rosaweiß, mit einem Stück weißem Sehnerv daran.
Er brachte sein Gewehr in Anschlag und sah zu Misulu hinüber. Misulu saß nicht mehr auf seinem Felsen.
Krüger durchquerte das Lager. Die Stummelaffen über ihm schwiegen jetzt. Er hörte das schmatzende Geräusch seiner Stiefel im Schlamm, als er an den Zelten mit den schlafenden Männern vorbeiging. Dann hörte er wieder das Keuchen - ein seltsames, leises Geräusch, das durch wirbelnden Morgendunst drang. Hatte er sich geirrt, war es wirklich ein Leopard? Dann sah er Misulu. Er lag auf dem Rücken in einer Blutlache. Sein Schädel war von den Seiten her zusammengedrückt, die Jochbeine zerschmettert, so daß das Gesicht schmal und in die Länge gezogen schien. Der Mund stand offen, als gähnte er, und das ihm verbliebene Auge trat weit aus dem Kopf hervor. Das andere Auge war offenbar durch Druck herausgeschleudert worden.
Als Krüger sich vorbeugte, um die Leiche näher zu untersuchen, fühlte er sein Herz klopfen. Was konnte eine solche Verletzung verursacht haben? Dann hörte er wieder das leise Keuchen, und diesmal war er ganz sicher: das war kein Leopard. Dann begannen die Stummelaffen wieder zu kreischen, und Krüger sprang auf die Füße und schrie laut auf.
l.Tag
Houston
13. Juni 1979
1. ERTS Houston
Gut fünfzehntausend Kilometer entfernt saß Karen Ross in Houston in dem kalten, fensterlosen Datenzentrum der Earth Resources Technology Services (ERTS) Inc. über ein Datensichtgerät gebeugt. Eine Tasse Kaffee neben sich, wertete sie die letzten Bilder aus, die der Satellit Landsat aus Afrika übermittelt hatte. Karen Ross war für das Kongo-Projekt der ERTS zuständig, und während sie für die Satellitenbilder künstliche Kontrastfarben, blau, rot und grün, einstellte, sah sie ungeduldig auf ihre Uhr. Sie wartete auf die nächste Übertragung der Arbeitsgruppe aus Afrika.
Es war jetzt 22 Uhr 15 Houston-Zeit, doch gab es in dem Raum keinen Hinweis auf Ort oder Zeit. Ob Tag oder Nacht, die Datenzentrale der ERTS blieb unverändert. Im Licht zahlreicher speziell abgestimmter Kalon-Leuchtstoffröhren arbeiteten Programmierer in Pullovern an langen Reihen leise klickender Computer-Datenplätze und lieferten so den Forschertrupps auf der ganzen Welt, die die ERTS von diesem Raum aus überwachte, Echtzeiteingaben. Diese gewisse Zeitlosigkeit war notwendig für die Computer; sie brauchten eine gleichbleibende Temperatur von sechzehn Grad Celsius, abgeschirmte elektrische Leitungen und eine spezielle farbkorrigierte Beleuchtung, die die Schaltungen nicht beeinträchtigte. In dieser für Maschinen geschaffenen Umgebung waren die Bedürfnisse der Menschen zweitrangig.
Doch es gab noch einen weiteren Grund für die Auslegung dieser Anlage. Es wurde gewünscht, daß die Programmierer in Houston sich mit den Forschergruppen draußen identifizierten und soweit wie möglich nach deren Zeitplänen lebten. Die Eingabe von Baseball-Spielen und anderen lokalen Ereignissen wurde nicht gern gesehen. Keine Uhr zeigte Houston-Zeit, wohl aber gaben acht große Digitaluhren an der gegenüberliegenden Wand die Ortszeh für die verschiedenen Forschergruppen an. , Die Uhr, unter der EXPEDITION KONGO stand, zeigte 06.15, als aus dem Deckenlautsprecher die Mitteilung kam: »Dr. Ross, Video-Eingang im Steuerraum.«
Sie gab die digitalen Codes ein, die das Kennwort blockierten, und verließ die Konsole. Jeder Datenplatz in der ERTS hatte eine Kennwortsteuerung, das Ganze funktionierte wie ein Zahlenschloß. Diese Steuerung war Teil eines ausgeklügelten Systems, das ein Anzapfen ihrer ungeheuren Datenfülle von außen verhindern sollte. Die ERTS handelte mit Informationen, und wie R. B. Travis, ihr Leiter, gern sagte, war Stehlen die einfachste Art, an Informationen heranzukommen.
Karen Ross ging mit langen Schritten durch den Raum. Sie war knapp einsachtzig groß, eine hübsche, wenn auch etwas unelegante junge Frau. Mit ihren vierundzwanzig Jahren war sie jünger als die meisten hier beschäftigten Programmierer, aber trotz ihrer Jugend von einer Selbstsicherheit, die die meisten Menschen verblüffte - und wohl auch ein wenig beunruhigte. Karen Ross war ein wahres mathematisches Wunderkind. Schon mit zwei Jahren hatte sie, wenn sie mit ihrer Mutter einkaufen ging, im Kopf ausgerechnet, ob es günstiger sei, eine Viertel-Kilo-Packung zu neunzehn Cent oder eine Achthundert-Gramm-Packung zu neunundfünfzig Cent zu kaufen. Als Dreijährige verblüffte sie ihren Vater mit der Bemerkung, daß im Unterschied zu anderen Ziffern die Null an unterschiedlicher Stelle Unterschiedliches bedeutet. Mit acht beherrschte sie bereits Algebra und Geometrie, mit zehn hatte sie sich im Selbststudium zur Infinitesimalrechnung Zugang verschafft, und mit dreizehn Jahren nahm sie ihr Studium am berühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT) auf. Hier machte sie eine Reihe brillanter Entdeckungen auf dem Gebiet der abstrakten Mathematik, deren Höhepunkt ihre Abhandlung >Topologische Voraussagen im Raum n-ter Ordnung< war. Ihre darin entwickelten Vorstellungen waren nützlich für EntscheidungsMatrizen, Analysen kritischer Wege sowie für kartographische Darstellungen in mehreren Dimensionen. Mit diesen Interessen hatte sie die Aufmerksamkeit der ERTS auf sich gezogen - und war die jüngste Leiterin für die Überwachung von Projekten geworden. Sie war nicht bei allen beliebt. Die Jahre, die sie abgekapselt und immer die jüngste im Hause gewesen war, hatten sie zurückhaltend und distanziert gemacht. Einer ihrer Mitarbeiter nannte sie »eine Spur zu kühl und logisch«. Ihre Haltung hatte ihr in Anspielung auf das Ross-Shelf-Eis in der Ostantarktis den Spitznamen »Ross-Gletscher« eingetragen.