Damit war die Echtheit des Bildes über jeden Zweifel hinaus bewiesen.
Sie ging zu Travis.
»Schön, gehen wir davon aus, ich akzeptiere dieses Bild«, sagte Travis mit gerunzelter Stirn. »Dann sehe ich immer noch nicht ein, warum Sie die nächste Expedition leiten sollten.« Karen Ross fragte: »Was haben denn die anderen rausgekriegt?« »Die anderen?« fragte Travis mit Unschuldsmiene. »Sie haben das Band doch noch einer anderen Aufbereitungsgruppe gegeben, um mein Ergebnis zu überprüfen«, sagte Karen Ross.
Travis sah auf seine Uhr. »Bis jetzt noch nichts.« Und fügte hinzu: »Wir wissen, daß Sie mit Datenmaterial schnell sind.« Karen Ross lächelte. »Deshalb brauchen Sie mich auch als Expeditionsleiterin«, sagte sie. »Ich kenne das Datenmaterial, weil ich es hergestellt habe. Und wenn Sie sofort einen neuen Trupp losschicken wollen, bevor das Rätsel um den Gorilla gelöst ist, kann Ihre einzige Hoffnung nur darin liegen, daß der Teamleiter schnell an Ort und Stelle etwas mit den Daten anfangen kann. Diesmal brauchen Sie da draußen einen Konsolenartisten. Sonst endet die nächste Expedition wie die vorige. Denn Sie wissen doch immer noch nicht, was da eigentlich passiert ist.« Travis saß an seinem Schreibtisch und sah sie lange an. Sie deutete sein Zögern als Zeichen dafür, daß sein Widerstand nachließ.
»Außerdem möchte ich mich draußen vergewissern«, sagte Karen Ross.
»Bei einem Außenstehenden?«
»Ja. Bei einem Experten unter unseren freien Mitarbeitern.« »Das ist riskant«, sagte Trafis. »Ich ziehe zu diesem Zeitpunkt ungern Außenstehende in die Sache hinein. Sie wissen, daß das Konsortium uns auf den Fersen ist. Rechnen Sie sich mal aus, wie hoch die Wahrscheinlichkeit steigt, daß etwas durchsickert.« »Es ist aber wichtig«, erklärte Karen Ross beharrlich.
Travis seufzte. »Schön, wenn Sie meinen, daß es wichtig ist.« Er seufzte wieder. »Nur, sehen Sie zu, daß wir uns keine Verspätung einhandeln.«
Karen Ross packte bereits ihre Unterlagen zusammen.
Als Travis wieder allein war, runzelte er die Stirn und dachte noch einmal über seine Entscheidung nach. Selbst wenn es gelang, die nächste KongoExpedition im Ruckzuckverfahren binnen vierzehn Tagen abzuschließen, würden die festen Kosten immer noch mehr als dreihunderttausend Dollar betragen. Der Aufsichtsrat würde zetern: Wie konnte man ein unerprobtes Kind von vierundzwanzig Jahren, eine Frau, mit einer solchen Verantwortung in den Busch schicken? Noch dazu bei einem so wichtigen Projekt, bei dem so ungeheuer viel auf dem Spiel stand, und bei dem sie zeitlich bereits in Verzug waren und längst den Kostenrahmen überschritten hatten. Und Karen Ross, die so kühl und unnahbar war, würde sich wahrscheinlich als schlechte Expeditionsleiterin erweisen und die anderen Teilnehmer vor den Kopf stoßen.
Andererseits, dachte Travis, sprach auch einiges für den Ross-Gletscher. Aus seinen Regenmacherzeiten hatte er die ManagerPhilosophie mitgebracht, daß man ein Projekt am besten dem anvertraute, dem ein Erfolg am meisten nützen oder dem ein Fehlschlag am meisten schaden würde.
Er wandte sich seiner Konsole zu, die neben seinem Schreibtisch stand. »Travis«, sagte er, und der Bildschirm leuchtete auf. »Psychographische Unterlagen«, sagte er. Auf dem Bildschirm erschien eine Liste von Abrufpositionen. »Ross, Karen«, sagte Travis.
Auf dem Bildschirm flackerte KURZE DENKPAUSE. Das war die übliche Angabe in solchen Fällen. Sie bedeutete, daß Daten herausgezogen wurden. Er wartete.
Dann wurde das zusammengefaßte Psychogramm auf dem Bildschirm ausgegeben. Alle bei der ERTS Beschäftigten wurden drei Tage lang gründlichen psychologischen Tests unterzogen, bei denen es nicht nur um Fähigkeiten und Kenntnisse, sondern auch um mögliche Tendenzen ging. Er war sicher, daß die Einstufung von Karen Ross den Aufsichtsrat beruhigen würde.
HOCHINTELLIGENT / LOGISCHES DENKVERMOEGEN / FLEXIBEL / FINDIG / SPEZIELLE BEGABUNG FUER UMGANG MIT DATEN / DENKPROZESS RASCH WECHSELNDEN ECHTZEITSITUATIONEN ANGEPASST / GROSSE ANTRIEBS ST AERKE BEI BEKANNTEN VORGEGEBENEN ZIELEN / GEISTIG HOCH UND DAUERHAFT BELASTBAR /
Das sah aus wie die Beschreibung des idealen Leiters der nächsten Kongo-Expedition. Er ließ den Blick weiter über den Bildschirm laufen, um die einschränkenden Angaben zu lesen. Sie waren weniger beruhigend.
JUGENDLICH-RUECKSICHTSLOS /
SCHWACH ENTWICKELTE FAEHIGKEIT ZU MENSCHLICHEN BEZIEHUNGEN / DOMINIEREND / INTELLEKTUELLE
ARROGANZ / MANGELNDES
FINGERSPITZENGEFUEHL / SUCHT ERFOLG UM JEDEN PREIS /
Und dann folgte die abschließende »Umkipp«-Analyse. Die Vorstellung, daß jeder vorherrschende Charakterzug unter extremen Bedingungen plötzlich in sein Gegenteil umschlagen konnte, war bei den Testverfahren der ERTS entwickelt worden. So konnten väterliche Männer und mütterliche Frauen »umkippen« und zu infantilen Quenglern werden, und wer zur Hysterie neigte, konnte unter solchen Bedingungen eiskalt werden. Logisch denkende Menschen wurden plötzlich impulsiv.
UMKIPP-MUSTER: DIE VORHERRSCHENDE {MOEG-LICHERWEISE UNERWUENSCHTE} OBJEKTIVITAET KANN VERLORENGEHEN, WENN DAS ANGESTREBTE ZIEL IN SICHT KOMMT / DAS ERFOLGSSTREBEN KANN ZU GEFAEHRLICH IMPULSIVEN REAKTIONEN FUEH-REN / DIESE RICHTEN SICH VOR ALLEM GEGEN VATERFIGUREN / DAHER IST ABGEFRAGTE PERSON BEI ZIELORIENTIERTEN VERFAHREN IN DEN ENDPHASEN ZU UEBERWACHEN /
Travis sah auf den Bildschirm und kam zu dem Ergebnis, daß eine solche Situation bei der nächsten Kongo-Expedition höchst unwahrscheinlich war. Er schaltete den Computer ab.
Karen Ross war nahezu berauscht von ihrer neuen Aufgabe. Kurz vor Mitternacht ließ sie sich die Liste der freien Mitarbeiter auf ihren Datenplatz geben. Die ERTS arbeitete mit den verschiedensten Tierexperten zusammen, die sie mit Geldern aus einer gemeinnützigen Stiftung, dem Earth Resources Wildlife Fund, förderte. Die Liste war nach Fachgebieten geordnet. Unter »Primaten« waren vierzehn Adressen aufgeführt, einige in Borneo, Malaysia, und Afrika, andere in den Vereinigten Staaten. Unter den letzteren beschäfigte sich nur einer mit Gorilla-Forschung, ein Primatologe namens Dr. Peter Elliot an der University of California in Berkeley.
Den Bildschirmangaben zufolge war Elliot neunundzwanzig Jahre alt, unverheiratet und Privatdozent am Zoologischen Institut. Sein Hauptforschungsgebiet war offensichtlich »Kommunikation von Primaten (Gorilla)«. Die von der ERTS gewährten Beiträge wurden für ein »Projekt Amy« verwendet. Sie sah auf die Uhr. Es war gerade Mitternacht in Houston, in Kalifornien demnach zehn Uhr abends. Sie wählte Elliots Privatnummer.
»Hallo«, meldete sich eine zurückhaltende männliche Stimme. »Spreche ich mit Dr. Peter Elliot?«
»Ja...« Es klang so, als zögerte der Mann, als sei er auf der Hut. »Sind Sie von der Presse oder vom Fernsehen?« »Nein«, sagte sie. »Hier spricht Dr. Karen Ross in Houston. Ich habe mit dem Earth Resources Wildlife Fund zu tun, der Ihre Forschung unterstützt.«
»Oh, ja...« Immer noch der vorsichtige Klang in der Stimme. »Sie sind wirklich nicht Reporterin? Ich sage Ihnen der Ordnung halber, daß ich dieses Gespräch als eventuelles Beweisstück mitschneide.«
Karen Ross zögerte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt - ein Wissenschaftler, der sich verfolgt fühlte und wichtige Entwicklungen bei der ERTS aufzeichnete. Sie schwieg. »Sind Sie Amerikanerin?« fragte er. »Selbstverständlich.«
Karen Ross sah angestrengt auf die ComputerBildschirme, auf denen jetzt die Angabe erschien: STIMME ERKANNT: ELLIOT, PETER, 29 JAHRE.
»Sagen Sie, weshalb Sie anrufen«, sagte Elliot. »Nun, wir stehen im Begriff, eine Expedition in das Virunga-Gebiet im Kongo zu schicken, und... «
»Tatsächlich? Wann denn?« Plötzlich klang die Stimme begeistert, jungenhaft. »In zwei Tagen, und...« »Ich möchte mitkommen«, sagte Elliot.
Karen Ross war so überrascht, daß sie kaum wußte, was sie sagen sollte. »Ja, Dr. Elliot, deswegen rufe ich Sie eigentlich nicht an...«