Carl Sagan
Contact
Für Alexandra, die im Jahr 2000 erwachsen sein wird. Mögen wir Deiner Generation eine bessere Welt hinterlassen als jene, die wir vorfanden.
Roman
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Meike Werner
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Contact
München 1986
Teil I
Die Botschaft
Mein Herz zittert wie ein armes Blatt.
Durch meine Träume wirbeln die Planeten.
Die Sterne pressen sich gegen mein Fenster.
Ich kreisel in meinem Schlaf.
Mein Bett ist ein warmer Planet.
1
Transzendente Zahlen
Kleine Fliege du,
deinem Sommerspiel
meine achtlose Hand
setzte das Ziel.
Gleich ich nicht auch
einer Fliege wie dir?
Und gleichst nicht du
einem Menschen wie mir?
Denn tanze und trinke und singe ich nicht,
bis ein täppischer Griff
die Schwinge mir bricht?
Menschlichem Ermessen nach konnte es kein künstlich geschaffener Körper sein: Das Ding war so groß wie eine ganze Welt. Zugleich war es allerdings so merkwürdig und kompliziert geformt, so offensichtlich auf einen komplexen Zweck hin ausgerichtet, daß es nur Ausdruck einer schöpferischen Intelligenz sein konnte. Während es in einer polaren Umlaufbahn um den großen blauweißen Stern glitt, sah es aus wie ein riesiges, unvollkommenes Polyeder, das mit einer Kruste aus Millionen klettenförmiger Gebilde überzogen war. Die Klettenkugeln waren auf die verschiedenen Sektoren des Himmels gerichtet. Sie erfaßten alle Himmelskonstellationen. Seit Äonen erfüllte diese polyedrische Welt ihre rätselhafte Aufgabe. Sie war sehr geduldig. Sie konnte es sich leisten, ewig zu warten.
Als man sie herauszog, schrie sie kein einziges Mal. Ihre winzige Stirn war runzelig, die Augen hatte sie weit aufgerissen. Sie schaute in die hellen Lichter und auf die weiß- und grüngekleideten Gestalten und die Frau, die unter ihr auf dem Tisch lag. Seltsam vertraute Klänge fluteten durch den Raum. Für ein Neugeborenes hatte ihr Gesicht einen eigentümlichen Ausdruck — es mochte Verwirrung sein.
Als sie zwei Jahre alt war, streckte sie immer wieder ihre Ärmchen in die Höhe und sagte dazu artig: „Papa, hoch.“ Seine Freunde waren überrascht. Das kleine Mädchen war so höflich. „Das ist nicht Höflichkeit“, sagte ihr Vater zu ihnen. „Früher hat sie immer geschrien, wenn sie auf den Arm genommen werden wollte. Deshalb habe ich einmal zu ihr gesagt: Ellie, du brauchst nicht zu schreien. Sag einfach: ‚Papa, hoch.“ Kinder sind so gescheit. Stimmt’s, meine Kleine?“
Jetzt war sie also richtig hoch droben, saß in schwindelnder Höhe auf den Schultern ihres Vaters und griff in sein schütteres Haar. Hier oben fühlte sie sich viel wohler und sicherer als da unten, wo sie durch einen Wald von Beinen krabbeln mußte. Da konnte man getreten werden oder gar verlorengehen. Sie packte noch fester zu.
Als sie vom Affenkäfig fortgingen und um die nächste Ecke bogen, sahen sie ein großes, geflecktes Tier mit dürren Beinen, einem langen Hals und kleinen Hörnchen auf dem Kopf. Das Tier überragte sie wie ein Turm. „Weil sein Hals so lang ist, kann das, was es sagt, nicht herauskommen“, sagte ihr Vater. Das arme, zum Schweigen verurteilte Tier tat ihr leid. Aber gleichzeitig freute sie sich, daß es so etwas gab. Solche Wunder begeisterten sie.
„Versuch es, Ellie“, drängte ihre Mutter sanft. In der vertrauten Stimme schwang übermütiger Stolz. „Lies es uns vor.“
Die Schwester der Mutter hatte nicht glauben wollen, daß Ellie mit drei Jahren schon lesen konnte. Die Tante war überzeugt gewesen, daß Ellie die Kindergeschichten auswendig gelernt hatte. Es war ein kühler Märztag, sie waren die State Street entlanggebummelt und zuletzt vor einem Schaufenster stehengeblieben. Hinter der Scheibe glitzerte ein burgunderroter Stein im Sonnenlicht. „Juwelier“, las Ellie langsam, und alle drei Silben waren deutlich zu hören.
Schuldbewußt schlich sie ins Gästezimmer. Das alte MotorolaRadio stand auf dem Regal, genau wie sie es in Erinnerung hatte. Der Apparat war groß und schwer. Fest an die Brust gedrückt holte Ellie ihn herunter und hätte ihn dabei fast fallen lassen. Hinten auf dem Radio war zu lesen: „Achtung! Rückwand nicht entfernen.“ Aber sie wußte, daß keine Gefahr bestand, wenn der Stecker nicht in der Dose war. Aufgeregt fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen, als sie die Schrauben entfernte und das Innere des Radios freilegte. Wie sie geahnt hatte, fand sie keine winzigen Orchester und Miniatursprecher, die in dem Gehäuse ein geruhsames Leben führten und nur darauf warteten, daß der Kippschalter auf „an“ geschaltet wurde. Statt dessen entdeckte sie wunderschöne Glasröhren, die Glühbirnen ähnelten. Einige sahen sogar aus wie die Kirchtürme, die sie auf Bildern in einem Buch über Moskau gesehen hatte. Die Metallstifte paßten mit ihren unteren Enden genau in die Buchsen, in die sie gesteckt waren. Sie ließ die Rückwand offen und stellte den Schalter auf „an“. Dann steckte sie den Stecker in die nächste Steckdose. Wenn sie nichts anfaßte und nirgends zu nahe dranging, dann konnte ihr doch wohl nichts passieren? Kurz darauf begannen die Röhren zwar zu glühen, aber dennoch war kein Ton zu hören. Das Radio war „kaputt“ und schon vor einigen Jahren gegen ein neueres Modell ausgetauscht worden. Eine der Röhren glühte nicht. Ellie zog den Stecker aus der Steckdose und zerrte die nicht funktionierende Röhre aus ihrer Buchse. In der Röhre steckte ein viereckiges Metallblättchen, das an winzigen Drähten befestigt war. Der Strom fließt also durch die Drähte, dachte sie.
Aber zuerst muß er in die Röhre kommen. Einer der Metallstifte sah verbogen aus, und mit ein bißchen Mühe konnte sie ihn wieder geradebiegen. Sie setzte die Röhre wieder ein und steckte den Stecker in die Steckdose. Sie war entzückt, als die Röhre zu glühen begann. Plötzlich zischte und brummte es. Erschrocken schaute Ellie zur geschlossenen Tür hinüber und drehte den Ton leiser. Als sie an dem Knopf drehte, auf dem „Frequenz“ stand, hörte sie auf einmal eine aufgeregte Stimme, die — soweit sie etwas verstehen konnte — über eine russische Maschine sprach, die hoch droben am Himmel flog und unaufhörlich um die Erde kreiste. Unaufhörlich, dachte Ellie. Sie drehte auf der Skala weiter, um zu einem anderen Sender zu kommen. Aus Furcht, entdeckt zu werden, zog sie nach einer Weile den Stecker wieder heraus, schraubte die Rückwand wieder lose an und hievte das Radio mühsam auf seinen Platz im Regal zurück.
Als sie ein wenig außer Atem aus dem Gästezimmer kam, lief sie ihrer Mutter in die Arme und fuhr wieder erschrocken zusammen.
„Alles in Ordnung, Ellie?“
„Ja, Mama.“
Sie machte ein gleichgültiges Gesicht, obwohl ihr Herz wie wild klopfte und ihre Hände feucht wurden. Sie setzte sich in dem kleinen Garten hinter dem Haus auf ihren Lieblingsplatz, zog die Knie ans Kinn und dachte über das Innere des Radios nach. Ob man diese Röhren wirklich alle brauchte? Was geschah, wenn man sie sie eine nach der anderen herausnahm? Ihr Vater hatte die Röhren einmal Vakuumröhren genannt. Was steckte in einer Vakuumröhre? War da wirklich keine Luft drin? Wie kamen die Musik und die Stimmen der Sprecher in das Radio hinein? Die Erwachsenen sagten immer, „durch die Luft“. Wurden Radiosendungen wirklich durch die Luft übertragen? Was passierte in dem Radioapparat, wenn man den Sender wechselte? Was war eine „Frequenz“? Warum mußte man den Stecker in die Steckdose stecken, damit es funktionierte? Konnte man eine Art Landkarte zeichnen, auf der zu sehen war, wie der Strom durch das Radio floß? Konnte man es auseinandernehmen, ohne sich dabei wehzutun? Und wie baute man es dann wieder zusammen?