„Ich verstehe Sie auch. Haben Sie noch ein paar Monate Geduld mit mir. Wenn wir bis dahin in Pi nichts gefunden haben, überlege ich mir, ob ich mit dem, was dort oben passiert ist, an die Öffentlichkeit gehe. Vor dem 1. Januar. Vielleicht werden auch Eda und die anderen bereit sein zu sprechen. Einverstanden?“
Schweigend gingen sie zum Verwaltungsgebäude von Argus zurück. Rasensprenger bewässerten das dürre Gras, sie mußten einer Pfütze ausweichen, die auf der sonst ausgetrockneten Erde irgendwie unpassend wirkte. „Waren Sie je verheiratet?“ fragte er. „Nein, nie. Ich glaube, ich hatte immer zu viel zu tun.“
„Waren Sie jemals verliebt?“ Es war eine direkte, sachliche Frage.
„Halbwegs, ein halbes Dutzend Mal. Aber.“ Sie schaute das nächststehende Teleskop an. „Es war immer zu viel Lärm darum herum. Das Signal war schwer zu finden. Und Sie?“
„Nie“, antwortete er entschieden. Es entstand eine Pause, und dann fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu: „Aber ich habe den Glauben.“
Ellie entschied, über diese Zweideutigkeit jetzt nicht weiter nachzudenken. Sie stiegen eine kurze Treppe hinauf, um sich den Hauptcomputer von Argus anzuschauen.
24
Die Signatur des Künstlers
Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden.
Das Universum scheint. durch die weise Voraussicht des Schöpfers aller Dinge nach Zahlen geordnet und eingerichtet. Denn es liegt ihm ein Muster zugrunde, einer Skizze gleich, das durch Zahlen festgelegt ist, die vor allem Anfang im Geist des weltschaffenden Gottes existiert haben.
Sie rannte die Stufen zum Pflegeheim hinauf und sah auf der frisch gestrichenen grünen Veranda, auf der in regelmäßigen Abständen leere Schaukelstühle standen, John Staughton stehen — vornübergebeugt, bewegungslos, die Arme wie tot herabhängend. Mit der rechten Hand umklammerte er eine Einkaufstasche, in der Ellie eine durchsichtige Duschhaube, einen geblümten Kosmetikkoffer und zwei mit rosa Bommeln geschmückte Hauspantoffeln sah. „Sie ist tot“, sagte er, als er Ellie sah. Mit bittender Stimme fuhr er fort: „Geh nicht hinein. Sieh sie dir nicht an. Sie hätte es nicht gewollt, daß du sie so siehst. Du weißt, wieviel Wert sie auf ihr Aussehen legte. Überhaupt, sie ist gar nicht da drin.“
Automatisch, aus langer Gewohnheit und noch immer unbezähmtem Groll heraus wollte Ellie sich umdrehen und trotzdem hineingehen. Aber sollte sie ihn auch jetzt, in dieser Situation, aus Grundsatz ablehnen? Was für Grundsätze waren das denn? Dem Schmerz nach zu schließen, der sich tief in sein Gesicht gegraben hatte, stand außer Frage, daß seine Trauer echt war. Er hatte ihre Mutter geliebt. Vielleicht, dachte Ellie, hatte er sie mehr geliebt als sie, und eine Welle von Selbstvorwürfen überschwemmte sie. Es war ihrer Mutter schon seit langer Zeit gesundheitlich sehr schlecht gegangen, und Ellie hatte sich oft überlegt, wie sie selbst reagieren würde, wenn das Ende da war. Sie erinnerte sich, wie schön ihre Mutter auf dem Bild gewesen war, das Staughton ihr geschickt hatte, und plötzlich wurde sie, obwohl sie sich auf diesen Moment vorbereitet hatte, von Tränen geschüttelt. Von ihrem Schmerz aufgerüttelt, ging Staughton zu ihr, um sie zu trösten. Aber sie hob abwehrend eine Hand und gewann mit sichtlicher Anstrengung die Fassung wieder. Sogar jetzt brachte sie es nicht über sich, ihn zu umarmen. Sie waren Fremde, zwischen denen eine Tote eine schwache Verbindung schuf. Aber es war falsch gewesen — das wußte sie in der Tiefe ihrer Seele —, daß sie Staughton für den Tod ihres Vaters verantwortlich gemacht hatte. „Ich habe etwas für dich“, sagte er und wühlte in der Einkaufstasche. Neue Gegenstände kamen zum Vorschein, während andere zum Boden der Tasche gedrückt wurden. Ellie konnte jetzt eine Brieftasche aus Kunstleder und den Plastikbehälter für das Gebiß sehen. Sie mußte wegschauen. Schließlich richtete Staughton sich wieder auf. In der Hand hielt er einen abgegriffenen Umschlag. „Für Eleanor“, stand darauf. Sie erkannte die Handschrift ihrer Mutter und wollte ihn an sich nehmen. Staughton trat erschreckt einen Schritt zurück und hielt sich den Umschlag schützend vors Gesicht, als hätte sie ihn schlagen wollen. „Warte“, sagte er. „Warte. Ich weiß, wir sind nie miteinander ausgekommen. Aber tu mir diesen einen Gefallen: Lies den Brief erst heute abend. Einverstanden?“ In seiner Trauer schien er zehn Jahre gealtert zu sein. „Warum?“ fragte sie.
„Deine Lieblingsfrage. Tu mir diesen einen Gefallen. Ist das zu viel verlangt?“
„Nein“, erwiderte sie. „Es ist nicht zu viel verlangt. Es tut mir leid.“
Er sah ihr in die Augen.
„Was auch immer du in dieser Maschine erlebt hast“, sagte er, „vielleicht hat es dich verändert.“
„Ich hoffe es, John.“
Sie rief Joss an und fragte ihn, ob er den Trauergottesdienst halten würde. „Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich nicht religiös bin. Aber es gab Zeiten, in denen meine Mutter es war. Sie sind der einzige Mensch, von dem ich möchte, daß er die Trauerfeier leitet, und ich bin ziemlich sicher, daß mein Stiefvater damit einverstanden ist.“ Er würde mit dem nächsten Flugzeug kommen, versicherte Joss ihr. Nach einem frühen Abendessen ging sie auf ihr Hotelzimmer und zog den Umschlag heraus. Mit den Händen fuhr sie sacht über ihn und streichelte jede Falte und jeden Knick. Er war alt. Ihre Mutter mußte den Brief vor Jahren geschrieben und ihn danach ständig in einem Fach ihrer Handtasche mit sich herumgetragen haben. Offensichtlich hatte sie sich nie entscheiden können, ob sie ihn Ellie geben sollte. Er schien nicht frisch zugeklebt worden zu sein, aber Ellie fragte sich dennoch, ob Staughton ihn gelesen haben mochte. Zum einen Teil war sie begierig, den Umschlag zu öffnen, aber ein anderer Teil in ihr sperrte sich in einer Art böser Vorahnung.
Lange Zeit saß sie in dem muffigen Lehnstuhl und dachte mit eng ans Kinn gezogenen Knien nach. Eine Glocke klingelte, und geräuschvoll erwachte der Wagen ihres Telefax-Apparats zum Leben. Er war mit dem Computer von Argus verbunden. Obwohl sie sich an früher erinnert fühlte, konnte es nicht wirklich dringend sein. Was auch immer der Computer gefunden hatte, es würde nicht verschwinden; würde nicht untergehen, wenn sich die Erde drehte. Wenn sich in p eine Botschaft verbarg, würde sie ewig auf Ellie warten.
Wieder musterte sie den Umschlag, aber das Klingeln hatte sie gestört. Wenn es in einer transzendenten Zahl eine Botschaft gab, mußte sie von Anfang an in die Geometrie des Universums eingebaut worden sein. Ihr neues Projekt war experimentelle Theologie. Aber das war alle Wissenschaft, dachte sie.
„BITTE WARTEN“, druckte der Computer auf den Telefaxschirm. Sie dachte an ihren Vater. oder vielmehr an das Trugbild ihres Vaters. an die Verwalter der Galaxis mit ihrem Netz von Tunneln durch den Sternenraum. Sie hatten den Ursprung und die Entwicklung des Lebens auf Millionen Welten beobachtet und vielleicht beeinflußt. Sie bauten Galaxien und riegelten Sektoren des Universums ab. Sie beherrschten zumindest eine begrenzte Form der Reise durch die Zeit. Sie waren Götter, die die frömmsten Vorstellungen fast aller Religionen übertrafen — jedenfalls aller westlichen Religionen. Aber sogar ihnen waren Grenzen gesetzt. Sie hatten die Tunnel nicht selbst gebaut und waren dazu auch nicht fähig. Sie hatten keine Botschaft in eine transzendente Zahl eingefügt und konnten die Botschaft, die sie in einer vermuteten, noch nicht einmal lesen. Die Erbauer der Tunnel und die, die vielleicht eine Botschaft in p hinterlassen hatten, waren andere. Sie lebten hier nicht mehr. Sie hatten keine Adresse hinterlassen. Als die Tunnelbauer abgereist waren,