Für die Astronomen und Techniker gab es nicht viel zu tun, während die Teleskope in jahrelanger Arbeit langsam den Himmel absuchten. Wenn die Teleskope etwas Interessantes entdeckten, ertönte automatisch eine Alarmanlage, die die Wissenschaftler des Projekts nötigenfalls auch aus den Betten holte. Dann entfaltete sich hektische Aktivität, bis man herausgefunden hatte, ob es sich um einen technischen Fehler oder um einen amerikanischen oder sowjetischen Flugkörper im All handelte. In Zusammenarbeit mit den Ingenieuren des Teams überlegte Ellie immer wieder, wie man die Empfindlichkeit der Geräte weiter verbessern konnte. War in der Strahlung ein bestimmtes Muster, eine Regelmäßigkeit zu erkennen? Sie stellte einige Radioteleskope für die Untersuchung exotischer astronomischer Objekte frei, die vor kurzem von anderen Observatorien entdeckt worden waren. Sie half Mitgliedern des Teams und Wissenschaftlern, die nur als Gäste hier waren, bei ihren Projekten, die mit SETI nichts zu tun hatten. Regelmäßig flog sie nach Washington, um das Interesse ihres Geldgebers, der National Science Foundation, wachzuhalten. Beim Rotary Club in Socorro und an der Universität von New Mexico in Albuquerque hielt sie öffentliche Vorträge über Argus, und ab und zu konnte sie einen unternehmungslustigen Reporter begrüßen, der überraschend hier im hintersten Winkel New Mexicos auftauchte.
Ellie mußte aufpassen, nicht der Langeweile zu erliegen. Ihre Mitarbeiter waren zwar angenehm und freundlich, aber abgesehen davon, daß es sich nicht schickte, eine enge persönliche Beziehung mit einem Untergebenen einzugehen, verspürte sie auch gar keine Neigung zu so etwas. Sie hatte einige kurze, leidenschaftliche, im Grunde genommen aber flüchtige Liebschaften mit einheimischen Männern, die nichts mit dem Projekt zu tun hatten. Auch in diesem Bereich ihres Lebens hatten sich Langeweile und Überdruß breitgemacht.
Sie setzte sich an eines der Schaltpulte und stöpselte den Kopfhörer ein. Natürlich wußte sie, daß es absurd war zu glauben, daß sie, wenn sie auf einem oder zwei Kanälen mithorchte, eine Gesetzmäßigkeit entdecken würde, die der riesigen Computeranlage, die eine Milliarde Kanäle abhörte, entgangen sein könnte. Aber es gab ihr ein Gefühl von Nützlichkeit. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Ein träumerischer Ausdruck legte sich über ihr Gesicht. Sie ist wirklich sehr hübsch, erlaubte sich der Ingenieur zu denken.
Ellie hörte die normalen atmosphärischen Störungen, ein stetiges Rauschen. Einmal, als sie die Region des Himmels abhorchte, in die der Stern AC + 793888 in Cassiopeia gehörte, hatte sie wiederholt gemeint, ein Singen zu hören, ohne allerdings ganz sicher zu sein, ob ihr nicht die Einbildung einen Streich spielte. Bis zu diesem Stern als äußerstem Punkt würde Voyager 1 gelangen, der sich jetzt in der Nähe der Umlaufbahn von Neptun befand. Die Raumkapsel führte eine goldene Schallplatte mit sich, auf die Grüße, Bilder und Lieder von der Erde eingepreßt waren. Konnten außerirdische Wesen uns ihre Musik mit Lichtgeschwindigkeit senden, während wir ihnen unsere nur ein Zehntausendstel so schnell sandten? Wenn die atmosphärischen Störungen so offensichtlich strukturlos waren wie jetzt, mußte sie an Shannons berühmten Kommentar zur Informationstheorie denken, daß nämlich selbst die schönste verschlüsselte Botschaft nicht vom Rauschen zu unterscheiden war, wenn man den Code nicht kannte. Rasch drückte Ellie ein paar Tasten auf dem Pult vor sich und spielte zwei enge Frequenzbänder gegeneinander aus, in jeder Muschel des Kopfhörers eines. Nichts. Sie hörte sich die zwei Polarisationsebenen der Radiowellen an und dann den Kontrast zwischen der linearen und der zirkularen Polarisation. Man hatte die Wahl zwischen einer Milliarde Kanäle. Ein ganzes Leben lang konnte man versuchen, dem Computer zuvorzukommen, indem man mit den so jämmerlich unzureichenden menschlichen Ohren und dem Gehirn horchte und nach einem Muster suchte.
Menschen, wußte Ellie, waren gut im Unterscheiden komplizierter Muster, die es tatsächlich gab, aber genauso gut konnten sie sich Muster vorstellen, wo überhaupt keine waren. Eine bestimmte Pulssequenz, eine Konfiguration atmosphärischer Störungen würde für einen kurzen Augenblick einen synkopischen Takt oder eine kurze Melodie ergeben. Sie schaltete auf zwei Radioteleskope um, die eine bereits bekannte Radioquelle in der Galaxis abhörten. Sie hörte ein Glissando über den Radiofrequenzen, das auf die Streuung der Radiowellen durch die Elektronen in dem dünnen interstellaren Gas zwischen der Radioquelle und der Erde zurückzuführen war. Je ausgeprägter das Glissando, desto mehr Elektronen waren im Weg und desto weiter war die Quelle von der Erde entfernt. Ellie hatte das oft gemacht und konnte die Entfernung nach einmaligem Hören exakt bestimmen. Dieses Glissando hier war nach ihrer Schätzung ungefähr eintausend Lichtjahre entfernt — viel weiter weg als die nächsten Sterne, aber immer noch innerhalb unserer gigantischen Galaxis.
Ellie kehrte in den Himmelsinspektionsmodus von Argus zurück. Wieder kein Muster. Sie kam sich wie ein Musiker vor, der dem Grollen eines fernen Gewitters zuhört. Kleine Regelmäßigkeiten, die sich zufällig ergeben hatten, verfolgten sie und setzten sich so nachhaltig in ihrem Gedächtnis fest, daß sie manchmal auf die Bänder eines bestimmten Beobachtungslaufes zurückgreifen mußte, um sich zu vergewissern, daß ihre Ohren nichts gehört hatten, was dem Computer entgangen war.
Ihr ganzes Leben waren Träume ihre Freunde gewesen. Diese Träume waren außergewöhnlich genau, gut strukturiert und abwechslungsreich. Ellie hatte das Gesicht ihres Vaters oder die Rückwand eines alten Radioapparates wie im Film in allen Einzelheiten vor sich gesehen. Sie hatte sich immer bis in die kleinsten Einzelheiten an ihre Träume erinnern können — außer wenn sie unter extremem Druck stand wie vor ihrer mündlichen Doktorprüfung oder damals, als sie sich von Jesse getrennt hatte. Aber neuerdings tat sie sich schwer, sich die Bilder ihrer Träume in Erinnerung zu rufen. Und zu ihrer eigenen Bestürzung fing sie an, Töne zu träumen — wie Menschen, die blind geboren worden waren. In den frühen Morgenstunden erzeugte ihr Unterbewußtsein eine Melodie oder ein Liedchen, das sie nie zuvor gehört hatte. Sie wachte auf, machte mit einem akustischen Befehl das Licht auf ihrem Nachttisch an, nahm den Stift zur Hand, den sie für diesen Zweck bereit gelegt hatte, zeichnete Notenlinien und übertrug die Musik auf Papier. Manchmal spielte sie die Musik nach einem langen Arbeitstag mit ihrer Blockflöte und versuchte, sich daran zu erinnern, ob sie sie im Ophiuchus oder im Capricornus gehört hatte. Beunruhigt gestand sie sich ein, daß das natürliche Eigenrauschen der Empfänger und Verstärker und die Geräusche der geladenen Teilchen und magnetischen Felder des kalten dünnen Gases zwischen den fernen funkelnden Sternen sie wie ein Spuk verfolgten.
Immer wieder tauchte ein einzelner, hoher und spitzer Ton auf. Sie brauchte einen Augenblick, um ihn wiederzuerkennen. Er klang wie das Geräusch der Metallrolle an der Wäscheleine ihrer Mutter, die jedes Mal laut gequietscht hatte, wenn man an der Leine zog, um einen weiteren frisch gewaschenen Kittel zum Trocknen in die Sonne zu hängen. Ellie war sicher, daß sie diesen Ton in den fünfunddreißig Jahren, die seitdem vergangen waren, nicht mehr gehört hatte. Als kleines Mädchen hatte sie die Armee im Kreise marschierender Kleidungsstücke geliebt. Und wenn niemand in der Nähe war, hatte sie ihr Gesicht in den frisch getrockneten Leintüchern vergraben. Der Geruch, süß und stechend zugleich, hatte sie berauscht. War das hier womöglich ein Hauch davon? Sie erinnerte sich, wie sie lachend von den Leintüchern weggerannt war und ihre Mutter sie mit einer anmutigen Bewegung aufgefangen und in die Luft geschwungen — in den Himmel, so war es ihr vorgekommen — und dann unterm Arm davongetragen hatte wie ein kleines Bündel Wäsche, das man hübsch gefaltet in die Kommode im Elternschlafzimmer packt.