Heute hatte Ellie Drumlin gegenüber weder mit Entgegenkommen noch mit streitbaren Argumenten Erfolg. Er war alles andere als liebenswürdiger Laune und versuchte in seinem Kolloquium zu zeigen, daß es keine extraterrestrischen Wesen geben konnte. Wenn man es in nur wenigen tausend Jahren zu einer so hoch entwickelten Technologie gebracht hatte wie wir, was, so fragte er, mußte dann eine wirklich fortgeschrittene Spezies erst können? Wahrscheinlich konnte sie Sterne versetzen und Galaxien umbilden. Und dennoch gebe es in der gesamten Astronomie nichts, für dessen Erklärung man sich auf extraterrestrische Intelligenz anstelle natürlicher Vorgänge berufen müsse. Warum hatte Argus bis heute noch kein Signal entdeckt? Bildete man sich denn ein, daß es am ganzen Himmel nur einen Radiosender gebe? Hatte man sich schon einmal überlegt, wie viele Milliarden Sterne man bereits untersucht hatte? Das Experiment habe seinen Zweck erfüllt. Den restlichen Himmel brauche man nicht mehr zu untersuchen. Die Antwort liege auf dem Tisch: Weder im hintersten Winkel des Universums noch in der Nähe der Erde gab es Anzeichen für extraterrestrische Intelligenz. Sie existierte nicht.
In der anschließenden Diskussion stellte einer der ArgusAstronomen eine Frage zur Zoohypothese, die davon ausging, daß es sehr wohl außerirdische Wesen gebe, diese sich aber nicht zu erkennen geben wollten, um vor den Menschen zu verbergen, daß im Kosmos noch andere intelligente Wesen existierten — vielleicht aus demselben Empfinden heraus, aus dem sich ein Spezialist für das Verhalten der Primaten wünschte, eine Schar Schimpansen im Busch zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Als Antwort stellte Drumlin eine Gegenfrage: War es wahrscheinlich, daß bei einer Million Zivilisationen in der Galaxis — diese Zahl kursierte in Argus — jede Zivilisation an der Praxis der Nichteinmischung festhielt, daß es keine Ausnahme, keinen Wilderer gab? Konnte man sich glaubhaft vorstellen, daß keine dieser Zivilisationen auf der Erde spionierte? „Aber auf der Erde“, antwortete Ellie,
„stehen Wilderer und Wildhüter auf der annähernd gleichen technologischen Entwicklungsstufe. Wenn der Wildhüter einen bedeutenden Vorsprung hat — sagen wir mal, mit Radar und Hubschraubern — dann sind die Wilderer erledigt.“ Einige Wissenschaftler des Argus-Projektes klatschten bei dieser Bemerkung Beifall, aber Drumlin schüttelte nur den Kopf und sagte: „Auch Sie werden mir noch recht geben, Ellie. Irgendwann.“
Wenn sie sich den Kopf lüften wollte, hatte Ellie es sich zur Gewohnheit gemacht, in ihrem liebevoll gepflegten Thunderbird Baujahr 1958 lange, einsame Fahrten zu unternehmen. Der Wagen hatte ein abnehmbares Verdeck und kleine runde Fenster neben den Rücksitzen, die wie Bullaugen aussahen. Er war die einzige Extravaganz, die Ellie sich leistete. Oft ließ sie das Verdeck zu Hause und raste nachts mit heruntergedrehten Fensterscheiben und wehenden schwarzen Haaren durch die Wüste. Im Lauf der Jahre hatte sie jede der ärmlichen kleinen Städte, jeden Berg, jede Bergkuppe und jede Polizeistreife der Highways im südwestlichen New Mexico kennengelernt. Nach einem nächtlichen Beobachtungslauf im Observatorium liebte sie es, mit ihrem Wagen an der Wachstation und der Schranke der Argus-Anlage vorbeizurauschen, schnell in den nächsten Gang zu schalten und in Richtung Norden davonzubrausen. In der Umgebung von Santa Fe konnte man dann über den Sangre-de-Cristo- Bergen oft schon den zarten Schimmer der Morgendämmerung sehen. (Warum benannte eine Religion, fragte sie sich, ihre Orte nach Blut, Körper, Herz und Pankreas ihrer am höchsten verehrten Gottheit? Warum nicht nach dem Gehirn oder anderen wichtigen, aber nie dementsprechend gewürdigten Organen?)
An diesem Abend fuhr sie Richtung Südosten in die Sacramento Mountains. Hatte Dave vielleicht recht? Waren SETI und Argus nur das Hirngespinst von ein paar verschrobenen Astronomen? Stimmte es, daß das Projekt auch ohne Erfolg jahrelang weitergeführt werden würde und daß man immer neue Strategien entwickeln und sich noch ausgefallenere und teurere Instrumente ausdenken würde? Was wäre denn ein überzeugendes Zeichen dafür, daß sie gescheitert waren? Wann wäre sie bereit, aufzugeben und sich etwas Sichererem zuzuwenden, das mehr Erfolg versprach? Das Nobeyama-Observatorium in Japan hatte eben die Entdeckung von Adenosin, einem komplexen organischen Molekül und Baustein der DNS, in einer dichten Molekülwolke im All bekanntgegeben. Auch sie konnte bestimmt, wenn sie die Suche nach außerirdischen Intelligenzen aufgab, erfolgreich nach solchen mit Leben in Beziehung stehenden Molekülen im Weltall suchen.
In den Bergen stoppte Ellie den Wagen, stieg aus und betrachtete den südlichen Horizont. Ganz schwach konnte sie das Sternbild des Centaurus erkennen. In ihm hatten die alten Griechen ein schimärenhaftes Wesen, halb Mensch, halb Pferd, gesehen, das Zeus weise Dinge gelehrt hatte. Aber Ellie war von der Anordnung der Sterne noch nie auch nur entfernt an einen Zentauren erinnert worden. Der Alpha Centauri, der hellste Stern der Gruppe, gefiel ihr am besten. Von allen Sternen war er mit viereinviertel Lichtjahren der Erde am nächsten. In Wirklichkeit handelte es sich bei dem hellen Gebilde um ein Dreifachsternsystem. Zwei dicht beieinanderliegende Sonnen kreisten umeinander, und eine dritte, weiter entfernt liegende, kreiste um diese beiden. Von der Erde aus erschienen die drei Sterne als ein einziger Lichtpunkt. In besonders klaren Nächten wie dieser sah sie ihn hin und wieder über Mexiko stehen. Möglicherweise gab es Planeten dort, die man nur schwer ausfindig machen konnte. Einige kreisten vielleicht ganz dicht um eine der drei Sonnen.
Eine besonders interessante Umlaufbahn von einer gewissen Stabilität wäre die Acht, die sich um die zwei inneren Sonnen legte. Wie es wohl war, auf einer Welt mit drei Sonnen am Himmel zu leben? Wahrscheinlich wäre es dort noch heißer als in New Mexico.
Mit leichtem Schaudern entdeckte Ellie zu beiden Seiten des zweispurigen Highways Unmengen von Hasen. Sie hatte die Tiere früher schon gesehen, wenn sie auf ihren Fahrten bis ins westliche Texas kam. Seite an Seite saßen sie auf allen vieren am Straßenrand, doch wenn einer für einen kurzen Augenblick von den neuen Halogenscheinwerfern des Thunderbird angestrahlt wurde, stellte er sich auf die Hinterbeine, ließ die Vorderpfoten schlaff herunterhängen und bewegte sich nicht mehr. Meilenweit salutierte so eine Ehrenwache von Wüstenhasen vor ihr. Zumindest hatte sie diesen Eindruck, während sie durch die Nacht brauste. Die Tiere schauten auf, tausend rosafarbene Näschen schnupperten und zweitausend glänzende Augen leuchteten in der Nacht und starrten auf die Erscheinung, die auf sie zuraste. Vielleicht war es für sie eine Art religiöser Erfahrung, dachte Ellie. Es schienen in der Mehrzahl junge Hasen zu sein. Vielleicht hatten sie noch nie Autoscheinwerfer gesehen. Die zwei hellen Lichtstrahlen, die mit 130 km/h vorbeirasten, mußten ein verblüffender Anblick sein. Obwohl Tausende von Tieren die Straße säumten, sah Ellie nie eines, das etwa in der Mitte der Straße auf dem Markierungsstreifen gesessen hätte oder aufgescheucht im Dunkel verschwunden wäre. Auch einen toten Hasen sah sie nie. Aber warum saßen die Tiere überhaupt am Straßenrand? Vielleicht hing es mit der Temperatur des Asphalts zusammen. Oder sie waren auf Nahrungssuche in den Büschen neben der Straße und wollten vielleicht nur wissen, was die herankommenden hellen Lichter bedeuteten. Doch wie sollte man sich erklären, daß nie eines über die Straße hoppelte, um seine Cousins auf der anderen Seite zu besuchen? Was war der Highway für die Hasen? Ein Fremdkörper inmitten ihrer Welt, unergründlich in seiner Funktion und gebaut von Wesen, die die meisten von ihnen nie zu Gesicht bekommen hatten? Aber wahrscheinlich dachten die Tiere überhaupt nicht darüber nach.