„Was beschäftigt dich, Ellie?“ fragte ihre Mutter, die herausgekommen war, um Wäsche aufzuhängen. „Ach nichts, Mama. Ich denke einfach nur so.“
Als Ellie zehn Jahre alt war, besuchte sie in den Sommerferien zwei Cousins, die sie nicht leiden konnte, in einer an einem See auf der nördlichen Halbinsel Michigans gelegenen, öden Neubausiedlung. Warum Menschen, die an einem See in Wisconsin lebten, sich fünf Stunden ins Auto setzen mußten, um zu einem See im benachbarten Michigan zu fahren, war Ellie ein Rätsel. Zumal es nur darum ging, zwei biestige, kindische Jungen zu besuchen. Zehn und elf waren sie erst. Sie ging ihnen den ganzen Sommer aus dem Weg. In einer schwülen, mondlosen Nacht ging sie nach dem Essen allein zu dem hölzernen Landesteg hinunter. Ein Motorboot war gerade vorbei gefahren, und das Ruderboot ihres Onkels, das am Steg angebunden war, schaukelte sanft in dem vom Glanz der Sterne versilberten Wasser. In der Ferne waren Zikaden zu hören, und einmal drang kaum hörbar das Echo eines Schreies über den See; sonst war es vollkommen still. Sie sah hinauf zum funkelnden Sternenhimmel und fühlte, wie ihr Herz pochte.
Ohne nach unten zu schauen, tastete sie mit der ausgestreckten Hand nach einem Fleckchen weichen Grases und ließ sich darauf nieder. Der Himmel war übersät mit Tausenden von Sternen. Die meisten funkelten unstet, doch einige leuchteten strahlend hell und gleichmäßig. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar zarte Farben erkennen. Der helle Stern dort, schimmerte er nicht bläulich?
Mit der Hand vergewisserte sie sich, daß der Boden unter ihr noch da war. Die Erde fühlte sich fest, verläßlich und beruhigend an. Vorsichtig richtete sie sich auf, sah nach beiden Seiten und am Seeufer entlang, das in weitem Bogen vor ihr ausgebreitet lag. Sie konnte das gegenüberliegende Ufer sehen. Die Erde sieht nur platt aus, dachte sie. In Wirklichkeit ist sie rund. Sie ist eine große Kugel… die sich mitten im Himmel um sich selber dreht. einmal jeden Tag. Ellie versuchte sich vorzustellen, wie die Erde mit den Millionen von Menschen herumwirbelte, die alle auf ihr klebten, verschiedene Sprachen sprachen und lustige Kleider trugen. Sie alle hingen an derselben Kugel.
Ellie streckte sich wieder aus und versuchte zu spüren, wie sie herumwirbelte. Vielleicht konnte sie es ein bißchen fühlen.
Über dem Seeufer funkelte zwischen den Baumkronen ein heller Stern. Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie in dem schmalen Spalt Lichtstrahlen tanzen lassen. Kniff sie die Augenlider noch mehr zusammen, dann änderten die Strahlen gehorsam ihre Länge und Form. Bildete sie sich das nur ein, oder. Der Stern stand jetzt eindeutig über den Bäumen. Vorhin hatte er noch zwischen den Zweigen gefunkelt. Kein Zweifel, jetzt stand er höher. Das meinte man also, wenn man sagte, daß ein Stern aufging. Die Erde drehte sich in die Richtung, in der am Himmel die Sterne aufgingen. Diese Richtung wurde Osten genannt. Am anderen Ende des Himmels, hinter ihr, jenseits der Siedlung, gingen die Sterne unter. Diese Richtung hieß Westen. Einmal täglich drehte sich die Erde um sich selbst, und dieselben Sterne gingen wieder am selben Ort auf.
Aber wenn sich etwas so Riesiges wie die Erde einmal täglich drehte, mußte sie sich unglaublich schnell bewegen. Alle Leute, die sie kannte, mußten mit einer unglaublichen Geschwindigkeit herumwirbeln. Sie meinte jetzt tatsächlich zu spüren, wie sich die Erde drehte — nicht nur als Vorstellung im Kopf, sondern als wirkliches Gefühl in der Magengrube. Es war, als ob man in einem Fahrstuhl nach unten fuhr. Sie streckte den Hals noch weiter nach hinten, bis nichts mehr auf der Erde in ihr Blickfeld hereinragte und sie nur noch den schwarzen Himmel und die leuchtenden Sterne sah. Ein angenehmes Schwindelgefühl überkam sie. Unwillkürlich packte sie die Grasbüschel neben sich, um sich an der Erde und am Leben festzuhalten und nicht in den Himmel zu fallen. Ihr kleiner, bebender Körper kam ihr noch winziger vor angesichts des riesigen, dunklen Himmels.
Ein Schrei entfuhr ihr, bevor sie den Handrücken auf den Mund pressen konnte. So verriet sie ihren Cousins, wo sie zu finden war. Sie kamen die Böschung heruntergeklettert und auf Ellie zugelaufen. Auf Ellies Gesicht spiegelte sich eine eigenartige Mischung aus Verlegenheit und Staunen. Gierig musterten sie Ellie. Vielleicht hatte sie sich eine Kleinigkeit zuschulden kommen lassen, von der sie Ellies Eltern berichten konnten.
Das Buch war besser als der Film. Zum einen stand viel mehr drin. Und dann waren einige Bilder auch völlig anders als im Film. Beidemal allerdings trug Pinocchio — eine lebensgroße Holzpuppe, die auf wunderbare Weise zum Leben erweckt wird — einen Strick um den Hals, und seine Gelenke sahen aus wie Scharniere. Geppetto, der gerade letzte Hand an die Konstruktion Pinocchios legen will, dreht der Puppe den Rücken zu und wird im nächsten Moment mit einem wohlgezielten Tritt quer durch den Raum befördert. Im selben Augenblick kommt der Freund des Tischlers herein und fragt ihn, was er da ausgestreckt auf dem Boden mache. „Ich bringe den Ameisen das Alphabet bei“, antwortet Geppetto würdevoll.
Ellie fand das sehr witzig und erzählte es gern ihren Freunden weiter. Aber jedes Mal, wenn sie es erzählte, blieb im hintersten Winkel ihres Kopfes die unausgesprochene Frage zurück: Konnte man den Ameisen wirklich das Alphabet beibringen? Und wollte man das überhaupt? Sich da unten auf den Boden legen mitten in ein Gewimmel von Hunderten von Insekten, die einem dann überall auf der Haut herumkrabbelten und einen womöglich sogar bissen? Waren Ameisen denn überhaupt so gescheit?
Manchmal, wenn Ellie mitten in der Nacht aufstand und ins Badezimmer ging, traf sie dort auf ihren Vater, der, in Pyjamahosen und mit lang gestrecktem Hals, die Oberlippe in einer Art aristokratischer Herablassung unter der Rasiercreme gekräuselt, in den Spiegel blickte. „Hallo, mein Mädchen“, sagte er dann. Sie liebte es, wenn er sie so nannte.
Aber warum rasierte er sich mitten in der Nacht? Nachts merkte es doch niemand, wenn er unrasiert war. „Weil“, sagte er mit einem Lächeln, „es deine Mutter merken würde.“ Erst Jahre später entdeckte sie, daß sie sein vergnügtes Lachen damals nicht ganz verstanden hatte. Ihre Eltern hatten sich geliebt.
Nach der Schule war Ellie mit dem Fahrrad zu dem kleinen Park am Seeufer gefahren. Aus der Satteltasche holte sie das Handbuch für Radioamateure und Mark Twains Roman Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof. Sie überlegte kurz und entschied sich dann für letzteres. Der Held im Buch Mark Twains hatte einen Schlag auf den Schädel bekommen und war in König Artus’ England wiedererwacht. Vielleicht war das alles für ihn nur ein Traum oder eine Sinnestäuschung. Aber vielleicht war es auch Wirklichkeit. War es möglich, in die Vergangenheit zu reisen? Mit angezogenen Knien und aufgestütztem Kinn blätterte Ellie nach ihrer Lieblingsstelle. Es war die Passage gleich am Anfang der Geschichte, in der der Held des Buches von einem Mann mitgenommen wird, der eine Ritterrüstung trägt und den er deshalb für einen aus einer Irrenanstalt der Gegend entsprungenen Verrückten hält. Als die beiden oben auf dem Bergrücken ankommen, sehen sie eine Stadt unter sich ausgebreitet:
‚„Bridgeport?’ sagte ich.“
„‚Camelot’, sagte er.“
Ellie starrte auf den blauen See hinaus und versuchte, sich eine Stadt vorzustellen, die sowohl das Bridgeport des neunzehnten als auch das Camelot des sechsten Jahrhunderts hätte sein können. Plötzlich hörte sie ihre Mutter, die auf sie zugelaufen kam.