Am Abend zuvor hatten einige von ihnen am Sockel des Teleskops 101 gestanden und zum erstenmal die Wega gezeigt bekommen. Wie zum Gruß hatte deren blauweißes Licht besonders schön gefunkelt.
„Ich habe sie schon früher gesehen, aber nicht gewußt, daß es die Wega ist“, hatte einer der Wissenschaftler bemerkt. Die Wega schien heller zu sein als die anderen Sterne, aber das war auch schon alles, was sich an Besonderem sagen ließ: Sie war nur einer von den vielen tausend Sternen, die man mit bloßem Auge sehen konnte.
Die Wissenschaftler waren Teilnehmer eines Forschungsseminars über die Beschaffenheit, den Ursprung und die mögliche Bedeutung der Radiopulse. Das Büro für Öffentlichkeitsarbeit des Projekts — aufgrund des weitverbreiteten Interesses an der Suche nach extraterrestrischer Intelligenz war es größer als in den meisten anderen Observatorien — hatte die Aufgabe, die weniger bedeutenden Vertreter offizieller Stellen zu informieren. Jeder Neuankömmling bekam eine umfassende persönliche Einführung. Ellie selbst mußte die ranghöheren Delegierten einweisen, die laufenden Forschungsarbeiten überwachen und auf die nur zu verständlichen, mit Nachdruck vorgetragenen kritischen Fragen ihrer Kollegen eingehen. Sie war völlig erschöpft. Seit der Entdeckung hatte sie keine einzige Nacht mehr durchschlafen können.
Zunächst hatte man versucht, das Ganze geheimzuhalten. Trotz allem war man sich noch nicht absolut sicher, daß es sich um eine extraterrestrische Botschaft handelte. Eine vorzeitige oder falsche Bekanntgabe konnte in der Öffentlichkeit katastrophale Folgen haben. Und, was noch schlimmer war: Die Datenauswertung würde empfindlich gestört werden. Wenn erst die Presse auftauchte, mußte das die Arbeit der Wissenschaftler beeinträchtigen. Sowohl Washington als auch Argus hatten deshalb großes Interesse an einer Geheimhaltung. Aber die Wissenschaftler hatten bereits ihren Familien davon erzählt, das Telegramm der International Astronomical Union (IAU) war in die ganze Welt geschickt worden, und die noch in den Anfängen steckenden astronomischen Datenbanksysteme in Europa, Nordamerika und Japan hatten sämtliche Daten der Entdeckung gespeichert.
Obwohl man sich schon vorher überlegt hatte, wie man sich im Fall einer Entdeckung der Öffentlichkeit gegenüber verhalten wollte, war man auf die gegenwärtige Situation so gut wie nicht vorbereitet. Also wurde eine harmlos klingende Erklärung verfaßt und erst veröffentlicht, als es nicht mehr anders ging. Natürlich war die Sensation perfekt. Sie hatten die Medien um Geduld gebeten, waren sich aber gleichzeitig klar darüber, daß die Presseleute in Kürze scharenweise bei ihnen einfallen würden. Sie hatten versucht, die Reporter von einem Besuch des Geländes abzuschrecken, indem sie bekanntgaben, daß es sich bei den Signalen nicht um wirkliche Informationen, sondern nur um stumpfsinnig sich wiederholende Primzahlen handelte. Die Presse war ungehalten über die Verweigerung näherer Erklärungen. „Über Primzahlen kann ich nur ein paar Zeilen schreiben“, erklärte ein Reporter Ellie am Telephon. Kamerateams in Lufttaxis und gecharterten Hubschraubern glitten im Tiefflug über die Anlage und verursachten oft starke Störgeräusche, die die Teleskope allerdings sofort identifizierten. Einige Reporter lauerten den Delegierten aus Washington auf, wenn sie abends in ihre Motels zurückkehrten. Wagemutigere hatten sogar versucht, heimlich mit Jeeps oder Motorrädern, in einem Fall sogar zu Pferd in das Gelände einzudringen. Ellie sah sich gezwungen, sich nach den Preisen für einen Sicherungszaun um das Observatorium zu erkundigen.
Gleich nach Der Heers Ankunft hatte Ellie ihm eine erste Version ihrer späteren Standardeinführung gegeben: Auffallend seien die Intensität des Signals, die unmittelbare Nähe der Quelle zur Wega und die Beschaffenheit der Pulse. „Ich bin vielleicht der Wissenschaftsberater der Präsidentin“, sagte er, „aber von Haus aus doch in erster Linie Biologe.
Deshalb erklären Sie mir bitte alles der Reihe nach. Soviel ich bis jetzt verstanden habe, muß die Botschaft vor sechsundzwanzig Jahren losgeschickt worden sein, wenn die Radioquelle sechsundzwanzig Lichtjahre entfernt ist. Ein paar verrückte Typen mit spitzen Ohren haben sich also in den sechziger Jahren gedacht, wir würden gerne wissen, ob die da unten auf Primzahlen stehen. Aber Primzahlen sind doch keine aufregende Sache. Nach Angeberei sieht es also nicht aus. Eher, als wollten sie uns Nachhilfeunterricht in Arithmetik erteilen. Vielleicht wollen sie uns auch nur beleidigen.“
„Nein, das müssen Sie anders sehen“, erwiderte Ellie mit einem Schmunzeln. „Das alles ist nur das Vorspiel, das unsere Aufmerksamkeit erregen soll. Wir empfangen von Quasaren, Pulsaren, Radiogalaxien und so weiter die seltsamsten Pulssequenzen. Aber Primzahlen sind etwas ganz Besonderes, etwas sehr Künstliches. Nicht jede ungerade Zahl ist zum Beispiel eine Primzahl. Und daß abstrahlendes Plasma oder eine explodierende Galaxie eine so regelmäßige Reihe mathematischer Signale sendet, ist einfach undenkbar. Die Primzahlen sind zweifellos dazu da, unsere Aufmerksamkeit zu erregen.“
„Aber warum?“ fragte Der Heer völlig durcheinander. „Ich weiß es nicht. Wir müssen jetzt viel Geduld haben. Vielleicht verschwinden die Primzahlen bald und etwas anderes, etwas Bedeutungsvolleres tritt an ihre Stelle. Die eigentliche Botschaft. Wir müssen einfach weiter hinhören.“.
Am schwersten war der Presse zu erklären, daß die Signale keinen Inhalt hatten, keine Bedeutung — daß es sich nur um die ersten paar hundert Primzahlen handelte, die immer wieder von vorne anfingen und im Binärcode dargestellt waren: 1, 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29, 31. Sie mußte erklären, daß die Neun keine Primzahl war, weil man sie durch drei teilen konnte (und natürlich auch durch neun und eins). Genauso die Zehn, die durch fünf und zwei teilbar war (und durch zehn und eins). Die Elf war eine Primzahl, weil sie nur durch eins und sich selbst geteilt werden konnte. Aber warum wurden ausgerechnet Primzahlen gesendet? Sie mußte an jene verrückten Gelehrten denken, die zu keinem normalen Gespräch in der Lage waren, im Kopfrechnen aber unglaubliche Kunststücke vollbrachten — zum Beispiel konnten sie nach kurzem Nachdenken sagen, auf welchen Wochentag der erste Juni des Jahres 11977 fallen wird. Und das taten sie nicht mit einem bestimmten Ziel, sondern einfach, weil es ihnen Spaß machte und weil sie es konnten.
Obwohl erst wenige Tage vergangen waren, seit sie die Botschaft empfangen hatten, fühlte sich Ellie euphorisch und zutiefst enttäuscht zugleich. Nach all den Jahren hatten sie endlich ein Signal empfangen — eine Art Signal zumindest. Aber sein Inhalt war hohl und leer. Eigentlich hatte sie sich vorgestellt, eine ganze Encyclopaedia Galactica gesendet zu bekommen.
Erst in den letzten Jahrzehnten hatte man auf der Erde die Radioastronomie entwickelt. In der Galaxis um sie herum waren aber die Sterne im Durchschnitt einige Milliarden Jahre alt. Die Wahrscheinlichkeit, ein Signal von einer genauso fortgeschrittenen Zivilisation wie der der Erde zu empfangen, war verschwindend gering. Wenn die anderen auch nur ein wenig rückständiger waren als wir, würde es ihnen an den technischen Mitteln fehlen, mit uns in Verbindung zu treten. Deshalb kam das Signal höchstwahrscheinlich von einer weiter fortgeschrittenen Zivilisation. Vielleicht konnte die sogar melodienreiche Spiegelfugen schreiben: Der Kontrapunkt war dann das rückwärts geschriebene Thema. Nein, das konnte es nicht sein, entschied Ellie. Obwohl es zweifellos genial gewesen wäre und ihre Fähigkeiten bei weitem überschritten hätte, wäre es nur eine winzige Weiterführung dessen gewesen,
zu dem die Menschen fähig waren. (Bach und Mozart hatten immerhin beachtliche Versuche in der Richtung unternommen.) Ellie versuchte einen noch größeren Sprung. Sie versuchte, sich in den Kopf von jemand zu versetzen, der viel intelligenter war als sie und klüger als beispielsweise Drumlin oder Eda, der junge Physiker aus Nigeria, der den Nobelpreis bekommen hatte. Aber es funktionierte nicht. Sie konnte zwar darüber nachgrübeln, wie man den großen Fermatschen Satz oder die Goldbachsche Vermutung mit einigen wenigen Gleichungen beweisen konnte. Sie konnte sich Probleme ausmalen, die jenseits unseres Fassungsvermögens lagen und für aridere Wesen vielleicht bereits alte Hüte waren. Aber in ihre Köpfe konnte sie nicht schlüpfen, sie konnte sich nicht vorstellen, wie man dachte, wenn man viel mehr konnte als die Menschen. Natürlich. Das war keine Überraschung. Was hatte sie denn erwartet? Ebensogut konnte sie versuchen, sich eine neue Primärfarbe vorzustellen oder eine Welt, in der man einige hundert Bekannte nur aufgrund ihres individuellen Geruchs wiedererkennen konnte. Man konnte über so etwas reden, aber die Erfahrung selbst konnte man nicht machen. Zu sagen, daß jemand viel klüger war als man selbst, bedeutete ja, daß man ihn kaum noch verstehen konnte. Aber trotz alledem: Warum waren es nur Primzahlen?