Daß sich Irrlehren erheben würden, hat schon Christus vorausgesagt, doch daß die alten wieder vergehen sollen, ist uns nicht verkündet.
Ellie hatte eigentlich vorgehabt, Waygay am Flughafen von Albuquerque abzuholen und ihn in ihrem Thunderbird zur Argus-Station zu fahren. Der Rest der sowjetischen Delegation sollte in den Dienstfahrzeugen des Observatoriums transportiert werden. Sie wäre so gern in der kühlen Abendluft zum Flughafen gebraust, vielleicht wieder vorbei an einer Ehrenwache aufgerichteter Hasen. Und sie hatte sich schon auf ein langes privates Gespräch mit Waygay während der Rückfahrt gefreut. Aber die Beamten vom Allgemeinen Sicherheitsdienst hatten ihren Vorschlag abgelehnt. Die Meldüngen der Medien und der nüchterne Kommentar der Präsidentin am Ende ihrer Pressekonferenz vor zwei Wochen hatten Menschenmassen in die verlassene Wüstengegend geführt. Das konnte eine Gefahr bedeuten, hatte Ellie sich sagen lassen müssen. In Zukunft dürfe sie nur noch in Wagen der Regierung fahren und auch das nur in Begleitung einer bewaffneten Eskorte. Der kleine Konvoi fuhr jetzt so langsam und vorsichtig nach Albuquerque, daß Ellie unwillkürlich mit dem rechten Fuß auf das nicht vorhandene Gaspedal trat.
Ellie freute sich auf die Zeit mit Waygay. Sie hatte ihn das letzte Mal vor drei Jahren in Moskau gesehen. Damals hatte er keine Ausreisegenehmigung für den Westen erhalten. Ob man eine Genehmigung erhielt oder nicht, hing von dem wechselnden politischen Kurs und Waygays eigenem unberechenbaren Verhalten ab. Manchmal konnte er offensichtlich seine scharfe Zunge einfach nicht im Zaum halten. Dann fühlten die Politiker sich provoziert, und er verlor seine Genehmigung. Er bekam sie wieder, wenn man für die eine oder andere wissenschaftliche Delegation keinen anderen so fähigen Mann finden konnte. Waygay bekam aus der ganzen Welt Einladungen zu Vorträgen, Seminaren, Kolloquien, Konferenzen, interdisziplinären Symposien und internationalen Kommissionen. Als Nobelpreisträger und Vollmitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften konnte er sich mehr Selbstbewußtsein und Unabhängigkeit leisten als die meisten anderen. Oft ging er bis hart an die Grenze dessen, was die Parteilinie noch zugestehen konnte.
Mit vollem Namen hieß er Wassili Gregorowitsch Lunatscharski, aber in Physikerkreisen rund um den Globus kannte man ihn nur als Waygay, gebildet aus den Initialen seiner beiden Vornamen. Eigentlich war nur schwer zu verstehen, warum seine Beziehung zum sowjetischen Regime so zwiespältig war. Schließlich war er ein entfernter Verwandter von Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski, einem alten Bolschewisten und Kampfgenossen von Gorki, Lenin und Trotzki. Der ältere Lunatscharski war später Volkskommissar für das Bildungswesen geworden und dann sowjetischer Botschafter in Spanien bis zu seinem Tod 1933. Waygays Mutter war Jüdin. Und ihm wurde nachgesagt, daß er an der Entwicklung der sowjetischen Atomwaffen mitgearbeitet hatte, obwohl er damals noch viel zu jung gewesen war, als daß er bei der Explosion der ersten sowjetischen Wasserstoffbombe eine große Rolle hätte spielen können. Waygays Institut war personell und technisch gut ausgerüstet, und seine wissenschaftliche Produktivität war enorm, ein deutliches Zeichen, daß sich der Staatssicherheitsdienst selten einmischte. Auch wenn er nicht immer eine Ausreisegenehmigung erhielt, war er häufig bei den großen internationalen Konferenzen anwesend, darunter den „Rochester-Symposien“ über Hochenergiephysik, den „Texas-Konferenzen“ über relativistische Astrophysik und den inoffiziellen, aber hin und wieder wissenschaftlich einflußreichen „Pugwash- Konferenzen“ über Wege zum Abbau internationaler Spannungen.
Als Waygay in den sechziger Jahren Berkeley besuchte, war er begeistert von den respektlosen, oft obszönen oder politisch aufrührerischen Slogans, die man wie Sand am Meer als billige Anstecker kaufen konnte. Ellie dachte wehmütig an die Zeiten, in denen jeder offen über seine Probleme mit der Gesellschaft diskutiert hatte. Anstecker waren auch in der Sowjetunion sehr beliebt und weit verbreitet, aber meist war darauf die Fußballmannschaft „Dynamo“ oder eine erfolgreiche Raumkapsel zu sehen, zu der auch die erste Raumsonde zählte, die auf dem Mond gelandet war. Die Anstecker in Berkely waren ganz anders. Waygay hatte sie haufenweise gekauft, aber einen besonders gern angesteckt. Auf der fast handtellergroßen Fläche stand zu lesen: „Bete für Sex.“ Waygay trug ihn sogar auf wissenschaftlichen Konferenzen. Wenn er gefragt wurde, was diesen Anstecker so anziehend mache, antwortete er: „In Ihrem Land ist er nur in einer Hinsicht anstößig. In meinem Land dagegen in zweierlei Hinsicht.“ Wenn man weiter nachhakte, fügte er erklärend hinzu, daß sein berühmter bolschewistischer Verwandter ein Buch über die Stellung der Religion in der sozialistischen Gesellschaft geschrieben hatte. Seit jener Zeit hatte er mächtige Fortschritte im Englischen gemacht — weit mehr als Ellie im Russischen —, aber seine Liebe zu Ansteckern mit anstößigen Aufschriften hatte leider nachgelassen. In einer heftigen Diskussion über die jeweiligen Vorzüge der beiden politischen Systeme hatte Ellie sich einmal damit gebrüstet, daß sie die Freiheit gehabt hatte, vor dem Weißen Haus gegen die amerikanische Einmischung in Vietnam zu demonstrieren. Darauf hatte Waygay geantwortet, daß er damals ebenfalls die Freiheit gehabt hatte, vor dem Kreml gegen die amerikanische Einmischung in Vietnam zu demonstrieren.
Waygay hatte nie die Müllfrachter, die mit stinkenden Abfällen und begleitet von kreischenden Möwen an der Freiheitsstatue vorbeizogen, photographieren wollen wie ein anderer sowjetischer Wissenschaftler, den Ellie spaßeshalber während einer Pause auf einer Konferenz in New York City auf der Fähre nach Staten Island begleitet hatte. Auch hatte er nie wie andere seiner Kollegen leidenschaftlich die baufälligen Wellblechhütten der armen Puertorikaner abgelichtet, wenn sie von ihrem Luxushotel am Strand mit dem Bus einen Ausflug zum Observatorium in Arecibo gemacht hatten. Ellie hatte nie verstehen können, für wen die Bilder gemacht wurden. In ihrer Phantasie stellte sie sich eine riesige Bibliothek des KGB vor, in der ausschließlich Dokumente des Elends und der Ungerechtigkeiten und Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft gesammelt wurden. Vielleicht konnten sich ja die Funktionäre des KGB, wenn sie an ihren eigenen Mißerfolgen zu verzweifeln drohten, an den verblassenden Schnappschüssen von ihren amerikanischen Kollegen, die zeigten, daß auch in Amerika nicht alles vollkommen war, wieder aufrichten.
In der Sowjetunion gab es viele glänzende Wissenschaftler, die aus unbekannten Gründen über lange Zeiträume hinweg den Ostblock nicht verlassen durften. Konstantinow zum Beispiel war bis Mitte der sechziger Jahre nie im Westen gewesen. Als er auf einer internationalen Konferenz in Warschau vor einer Batterie leerer Gläser, die mit Branntwein aus Aserbaidschan gefüllt gewesen waren, nach dem Grund gefragt wurde, antwortete er: „Weil die Burschen genau wissen, daß ich nicht mehr zurückkommen würde, wenn ich erst einmal draußen bin.“ Trotzdem hatten sie ihn herausgelassen. Es war Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre gewesen, als in den wissenschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern eine Tauwetterperiode einsetzte. Und jedes Mal war er zurückgekommen. Jetzt durfte er allerdings nicht mehr ins Ausland, und er konnte seinen Kollegen im Westen nur noch Postkarten mit Bildern von sich selbst schicken. Auf den Bildern saß er mit gekreuzten Beinen und gebeugtem Kopf einsam auf einer Himmelskugel, unter der die Schwarzschildsche Gleichung für den Radius eines Schwarzen Lochs stand. Er befand sich jetzt in einem tiefen Potentialtopf,