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Bevor Palmer Joss überall zu Ruhm und Ehre gekommen war, hatte er als junger Mann auf einem Rummelplatz gearbeitet. Das war in einer Kurzbiographie in der Timesweek nachzulesen gewesen; es war kein Geheimnis. Um seinem Glück nachzuhelfen, hatte er sich eine Weltkarte besorgt und sie mit allen Details auf seinen Oberkörper tätowieren lassen. Damit ließ er sich dann auf Jahrmärkten und Rummelplätzen von Oklahoma bis Mississippi bewundern, einer der letzten einer längst vergangenen Zeit umherziehender Schausteller. In den blauen Ozeanen waren die vier Windgötter zu sehen, die mit aufgeblähten Backen West- und Nordostwinde bliesen.

Wenn er seine Brust bewegte, stürmte Boreas, der Gott des Nordwinds, über den Atlantik. Dazu deklamierte er für die verblüfften Zuschauer aus dem 6, Buch von Ovids Metamorphosen:

Mir geziemt nur Gewalt: gewaltsam verjage ich düstre Wolken, gewaltsam peitsch ich das Meer, und knorrige Eichen Stürz ich.

So auch, wenn ich mich stürze hinab in die Klüfte der Erde Und mit dem Rücken mich wild in die untersten Höhlungen stemme,

Mach ich die Manen erbeben, und weithin zittert der Erdkreis.

Feuer und Schwefel aus dem alten Rom. Wenn er mit den Händen etwas nachhalf, konnte er sogar die Kontinentalbewegung vorführen. Er drückte Westafrika gegen Südamerika, so daß sie auf dem Längengrad, der durch seinen Bauchnabel lief, wie Teile eines Puzzles zusammenpaßten. Auf Plakaten wurde er als „Geos, der Erdmann“ angekündigt.

Joss war sehr belesen. Da er nach der Grundschule von höherer Bildung unbelastet geblieben war, war ihm nicht gesagt worden, daß Wissenschaft und klassische Literatur sich nicht für das einfache Volk schickten. Dank seines guten Aussehens und seiner sympathisch wirkenden Haarmähne konnte er sich bei den Bibliothekaren der Städte, in denen seine Truppe Station machte, einschmeicheln. Wenn er ihnen erzählte, daß er sich weiterbilden wollte, halfen sie ihm mit Titeln von Büchern aus, die er ihrer Meinung nach lesen müsse. Gehorsam las er, wie man Freunde gewann, in Immobilien investierte und seine Bekannten einschüchterte, ohne daß sie es merkten. Aber diese Bücher befriedigten ihn nicht. Dagegen meinte er, in der Literatur der alten Griechen und Römer und der modernen Naturwissenschaft das zu finden, was er suchte. In jeder freien Minute eilte er in die Gemeinde- oder Stadtbüchereien. Er brachte sich Geographie und Geschichte bei. Das hätte mit seinem Job zu tun, sagte er zu Elvira, dem Elefantenmädchen, die ihn eingehend darüber ausfragte, was er trieb, wenn er weg war. Sie hatte den Verdacht, daß er hinter Mädchen her war — eine Bibliothekarin in jeder Stadt, hatte sie einmal gesagt —, aber sie mußte zugeben, daß seine gelehrten Reden immer besser wurden. Vom Inhalt verstand sie zwar nichts, aber die Art des Vortrags und die Wahl seiner Worte taten ihre Wirkung. Als er eines Tages mit dem Rücken zum Publikum den Zusammenstoß Indiens mit Asien und die daraus entstehende Auffaltung des Himalayagebirges vorführte, fuhr plötzlich aus dem grauen, trockenen Himmel ein Blitzstrahl nieder und erschlug ihn. Im Südosten von Oklahoma hatte es Wirbelstürme gegeben, und überhaupt war das Wetter überall im Süden ungewöhnlich. Er merkte deutlich, wie er seinen Körper verließ, der jämmerlich zusammengekrümmt auf den mit Sägemehl bedeckten Holzplanken lag und von der kleinen Menge der Zuschauer aus sicherer Entfernung und mit einer Art heiliger Scheu betrachtet wurde, und wie er durch einen langen, schwarzen Tunnel nach oben stieg und sich langsam einem hellen Licht näherte. In dessen strahlendem Glanz konnte er immer deutlicher eine heldenhafte, ja göttliche Gestalt erkennen.

Als er aufwachte, war er fast etwas enttäuscht, daß er noch lebte. Er lag auf einem Feldbett in einem bescheiden eingerichteten Schlafzimmer. Über ihn beugte sich Reverend Billy Jo Rankin, nicht der gegenwärtige Namensträger, sondern dessen Vater, ein würdiger Stellvertreter Gottes in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Hintergrund meinte Joss ein Dutzend verhüllter Gestalten zu erkennen, die das Kyrieeleison sangen. Aber er war sich nicht sicher. „Werde ich leben oder sterben?“ fragte der junge Mann flüsternd.

„Beides, mein Junge, beides“, antwortete Reverend Rankin. Joss wurde übermannt von dem Gefühl, daß sich ihm das irdische Leben neu geoffenbart hätte. Aber auf schwer zu beschreibende Weise stand dieses Gefühl im Widerstreit mit jener beseligenden Vision, die ihm so unermeßliche Freude verkündet hatte. Zutiefst spürte er den Konflikt der beiden widerstreitenden Gefühle in seiner Brust. Manchmal kam es ihm mitten in einem Satz zu Bewußtsein und drängte nach Ausdruck durch Worte oder Taten. Nach einer Weile fand er sich damit ab, mit dem Konflikt leben zu müssen. Er war wirklich tot gewesen, erzählten ihm hinterher die, die dabeigewesen waren. Ein Arzt hätte seinen Tod festgestellt. Aber sie hätten Gebete gesprochen und Lieder zum Lobe Gottes gesungen. Sie hätten auch versucht, ihn mit Massagen wiederzubeleben. Und sie hatten ihn wieder ins Leben zurückgebracht. Er war wahrhaftig und buchstäblich wiedergeboren. Da diese Geschichte so gut zu seiner eigenen Erfahrung paßte, akzeptierte er sie mit Freuden. Obwohl er fast nie darüber sprach, war er von der großen Bedeutung seines Erlebnisses überzeugt. Er war nicht umsonst erschlagen worden. Er war nicht ohne Grund ins Leben zurückgerufen worden.

Unter Anleitung seines Förderers stürzte er sich in das Studium der Heiligen Schrift. Er war tief bewegt von der Idee der Auferstehung und der Heilslehre. Am Anfang half er Reverend Rankin nur im kleinen aus, indem er hin und wieder in weiter entfernten Gebieten Predigten für ihn übernahm — besonders seit der jüngere Billy Jo Rankin dem Ruf Gottes nach Odessa, Texas, gefolgt war. Joss fand sehr bald einen eigenen Predigtstil, der weniger ermahnend als erklärend war. In einfachen Worten und vertrauten Bildern erklärte er die Taufe, das Leben nach dem Tode, die Verbindung zwischen der christlichen Offenbarung und den Sagen des klassischen Altertums, die göttliche Weltordnung und die Übereinstimmung von Wissenschaft und Religion, wenn beide richtig verstanden wurden. Es war nicht die herkömmliche Art zu predigen, und viele nahmen Anstoß an seiner ökumenischen Einstellung. Aber aus unerklärlichen Gründen wuchs die Zahl seiner Anhänger rapide. „Du bist wiedergeboren worden, Joss“, sagte der ältere Rankin zu ihm. „Eigentlich solltest du einen neuen Namen bekommen. Aber Palmer Joss ist so ein schöner Name, daß du ein Narr wärst, ihn nicht zu behalten.“ Wie Ärzte und Rechtsanwälte kritisierten auch die Religionsverkäufer selten ihre Ware gegenseitig, stellte Joss fest. Aber eines Abends besuchte er den Gottesdienst in der neuen Kreuzfahrerkirche, um den jüngeren Billy Jo Rankin predigen zu hören, der gerade siegreich aus Odessa zurückgekehrt war. Billy Jo predigte von Strafe, Belohnung und Verklärung. Aber die heutige Nacht, verkündete er der Gemeinde, sei eine heilbringende Nacht. Werkzeug des Heils war die heiligste aller Reliquien — heiliger als ein Holzsplitter vom heiligen Kreuz, sogar heiliger als der Oberschenkelknochen der heiligen Theresa von Avila, den General Franco in seinem Büro aufbewahrt hatte, um die Frommen einzuschüchtern. Was Billy Jo Rankin in der Hand hielt, war nichts Geringeres als das Fruchtwasser, das unseren Herrn schützend umgeben hatte. Die Flüssigkeit war in einem alten irdenen Gefäß sorgsam verwahrt worden, das einstmals der heiligen Anna gehört habe. Schon der kleinste Tropfen davon, versicherte Rankin, heile durch einen besonderen Akt göttlicher Gnade von allen Schmerzen. Und dieses allerheiligste Wasser war heute abend unter ihnen. Joss war entsetzt, allerdings weniger über den offensichtlichen Schwindel Rankins als über die Gläubigkeit, mit der die Gemeindemitglieder auf ihn hereinfielen. In seinem früheren Leben war Joss oft Zeuge geworden, wie man versucht hatte, die Leute übers Ohr zu hauen. Aber das hatte mit zum Jahrmarkt gehört. Hier war es etwas ganz anderes. Es ging um Religion. In der Religion war es nicht erlaubt, die Wahrheit falsch auszulegen oder gar künstlich Wunder zu erzeugen. Er nahm sich fest vor, diesen Betrug von der Kanzel herab anzuprangern.