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Ellie legte ihren Kopf leicht auf die Seite und sah Der Heer an. Anscheinend hatte er Schwierigkeiten, sie sich als Insekt vorzustellen. Sie versuchte, ihm in neutralem Ton zu antworten. Sie wußte ja, daß er solche Fragen aus rein beruflichem Interesse stellte.

„Was willst du jetzt mit ihr machen?“

„Ich setze sie wieder ins Gras. Oder was würdest du machen?“

„Manche Leute würden sie töten.“

„Es fällt schwer, ein Lebewesen zu töten, wenn es dir einmal sein Bewußtsein gezeigt hat“, sagte er. Er hielt den Ast mit der Raupe immer noch in der Hand.

Schweigend gingen sie weiter, vorbei an 55000 Namen, die in den spiegelnden schwarzen Granit eingraviert waren. „Jede Regierung, die sich auf einen Krieg vorbereitet, malt ihre Feinde in den schrecklichsten Farben als Monster“, sagte sie. „Man will sich die Gegenseite nicht menschlich vorstellen. Wenn der Feind denken und fühlen könnte, dann würde man vielleicht zögern, ihn zu töten. Und das Töten ist wichtig. Deshalb ist es besser, in den Feinden Monster zu sehen.“

„Sieh, wie schön die Raupe ist“, antwortete Der Heer nach einem kurzen Augenblick. „Schau sie dir genau an.“ Ellie tat es. Sie bezwang ihren Widerwillen und versuchte, die Raupe mit seinen Augen zu sehen. „Sieh mal, was sie tut“, fuhr er fort. „Wenn sie genauso groß wäre wie du oder ich, würde sie jeden zu Tode erschrecken. Die Raupe wäre dann ein richtiges Monster, nicht? Aber sie ist klein. Sie frißt Blätter, kümmert sich nur um ihre Sachen und verschönert die Welt ein bißchen.“

Ellie ergriff seine freie Hand, und wortlos gingen sie an den Namenskolonnen vorbei, die chronologisch nach dem Todesdatum aufeinander folgten. Natürlich waren hier nur die amerikanischen Gefallenen aufgeführt. Außer in den Herzen der Angehörigen und Freunde gab es nirgendwo auf der ganzen Welt ein entsprechendes Denkmal für die zwei Millionen Menschen aus Südostasien, die ebenfalls in diesem Krieg umgekommen waren. In Amerika war die allgemeine Erklärung für das Scheitern dieses Krieges die, daß die Politiker den erfolgreichen Militärs in den Rücken gefallen wären, eine Erklärung, die stark an die Dolchstoßlegende erinnerte, die unter den deutschen Militärs nach ihrer Niederlage im Ersten Weltkrieg aufgekommen war. Der Vietnamkrieg war eine Eiterbeule im Bewußtsein der Nation, die anzustechen bisher kein Präsident gewagt hatte. (Die spätere Politik der Demokratischen Republik von Vietnam hatte diese Aufgabe keineswegs leichter gemacht.) Ellie dachte daran, wie normal es für die amerikanischen Soldaten gewesen war, ihre vietnamesischen Gegner als „Dreckschweine“, „Flachköpfe“, „Schlitzaugen“ zu beschimpfen oder mit noch übleren Namen zu belegen. Mußte man nicht, ehe wir die nächste Etappe der Menschheitsgeschichte bewältigen konnten, zuerst das Bedürfnis ausrotten, den Feind zu entmenschlichen?

Im Alltag sprach Der Heer nicht wie ein Akademiker. Hätte man ihn an dem Kiosk getroffen, wo er sich seine Zeitung kaufte, wäre man nie darauf gekommen, daß er Wissenschaftler war. Er hatte seinen New Yorker Straßenakzent nie ganz abgelegt. Am Anfang hatte dieses offenkundige Mißverhältnis zwischen seiner Sprache und der Qualität seiner wissenschaftlichen Arbeit seine Kollegen belustigt. Aber wenn man seine Arbeiten und ihn selbst besser kennenlernte, dann war der Akzent nur noch ein kleiner, unbedeutender Spleen. Aber wenn Der Heer das Wort Guanosintriphosphat aussprach, dann bekam dieses harmlose Molekül plötzlich explosive Sprengkraft.

Beide merkten es erst spät, daß sie sich ineinander verliebt hatten. Den anderen mußte es schon längst aufgefallen sein. Vor einigen Wochen hatte Lunatscharski, damals noch im Argus-Observatorium, wieder eine seiner gelegentlichen Tiraden über die Irrationalität der Sprache losgelassen. Diesmal war das amerikanische Englisch an der Reihe gewesen. „Ellie, warum sagt man: ‚wieder denselben Fehler machen’? Welche zusätzliche Information kommt durch ‚wieder’ dazu? Und stimmt es, daß ‚abbrennen’ und ‚niederbrennen’ dasselbe bedeuten? Wenn man ‚abschrauben’ sagen kann, warum kann man dann nicht genauso ‚niederschrauben’ sagen?“

Ellie nickte müde. Schon mehr als einmal hatte sie gehört, wie er sich bei seinen sowjetischen Kollegen über die Ungereimtheiten der russischen Sprache beklagt hatte, und sie war überzeugt, daß sie auf der Konferenz in Paris die französische Version davon zu hören bekommen würde. Sie gab bereitwillig zu, daß Sprachen unglückliche Ausdrucksweisen besäßen, die aber aus so vielen verschiedenen Quellen herrührten und sich aufgrund so vieler Sachzwänge entwickelt hätten, daß es geradezu erstaunlich wäre, wenn sie alle völlig logisch und ohne innere Widersprüche wären. Waygay hatte so viel Spaß mit seinen Klageliedern, daß sie es nicht übers Herz brachte, dagegen zu protestieren. „Aber nehmen Sie den Ausdruck ‚Hals über Kopf verliebt’“, redete er weiter. „Da stimmt es wenigstens einmal, habe ich recht? Normalerweise hat man den Kopf auf dem Hals. Aber wenn man verliebt ist, ist alles genau umgekehrt. Sie wissen doch, wie es mit dem Verlieben ist. Da sitzt der Kopf nicht mehr an seiner gewohnten Stelle, sondern man schwebt mit dem Kopf nach unten durch die Luft, wie auf den Bildern dieses französischen Malers — wie war doch sein Name?“

„Er war Russe“, erwiderte Ellie. Marc Chagall hatte dem Gespräch eine Wende gegeben und war so zu ihrer Rettung geworden. Hinterher fragte sie sich, ob Waygay sie aufziehen oder einfach zu einer Antwort hatte provozieren wollen. Vielleicht hatte er nur intuitiv das wachsende Band zwischen Ellie und Der Heer erfaßt.

Der Heers Zögern war zumindest teilweise verständlich. Er, der Wissenschaftsberater der Präsidentin, hatte hier in Argus eine noch nie dagewesene, äußerst heikle und unberechenbare Aufgabe zu bewältigen. Sich dabei emotional mit einer der Hauptpersonen einzulassen, war riskant. Die Präsidentin wünschte mit Sicherheit, daß sein Urteil frei von allen persönlichen Beeinflussungen blieb. Er mußte in der Lage sein, unabhängig von der Meinung Ellies zu entscheiden, welche Maßnahmen getroffen werden sollten. Sich in Ellie zu verlieben würde Der Heers Eignung für diese Aufgabe auf jeden Fall in Frage stellen.

Für Ellie war es noch schwieriger. Bevor sie die allerseits geachtete Direktorin eines großen Radioobservatoriums geworden war, hatte sie viele Beziehungen gehabt. Und wenn sie auch verliebt gewesen war und das ganz offen zugab, hatte sie der Gedanke an eine Heirat doch nie verlockt. Dunkel erinnerte sie sich an einen Vierzeiler — war er von William Butler Yeats? — , mit dem sie ihre ersten Liebhaber zu trösten versucht hatte, deren Herzen gebrochen waren, weil sie wieder einmal beschlossen hatte, daß es vorbei war:

Du sagst, daß Liebe ewig sei, Sind’s Tage nur, so sei’s nicht viel -

O Narrheit, gibt es Tage doch, Die mehr sind als nur ewiges Spiel.

Ihr fiel ein, wie reizend John Staughton zu ihr gewesen war, als er ihrer Mutter den Hof machte, und wie schnell er sich verändert hatte, nachdem er ihr Stiefvater geworden war. Offenbar konnten sich Männer nach der Hochzeit verändern und zu Monstern werden. Ihre romantische Veranlagung machte sie verwundbar. Sie wollte nicht den gleichen Fehler machen wie ihre Mutter. Und noch tiefer saß die Angst, sich rückhaltlos zu verlieben, sich ganz jemandem anzuvertrauen, der ihr dann entrissen wurde. Oder sie einfach verließ. Wenn man sich nie richtig verliebte, entbehrte man die Liebe auch nicht. (Darüber dachte sie allerdings nie genauer nach, weil sie dunkel ahnte, daß ihre Schlußfolgerung nicht ganz stimmte.) Aber wenn sie sich nie richtig verliebte, konnte sie auch niemanden verraten. Tief in ihrem Herzen glaubte sie nämlich, daß ihre Mutter ihren schon lange verstorbenen Vater verraten hatte. Ellie vermißte ihn noch immer schmerzlich.